Kabul/Berlin/Istanbul (dpa)

Siegeszug der Taliban: Kommen jetzt die Flüchtlinge?

Mirjam Schmitt, Martina Herzog und Veronika Eschbacher, dpa
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Von Mirjam Schmitt, Martina Herzog und Veronika Eschbacher, dpa
| 17.08.2021 14:43 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
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In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen. Am Kabuler Flughafen suchen verzweifelte Menschen Zugang zu Flugzeugen. Könnten erneut viele Migranten kommen?

Mit dem Fall Kabuls ist die Mahnung wieder zu hören, insbesondere von Politikern der Union. „2015 darf sich nicht wiederholen“, verlangte CDU-Vize Thomas Strobl, der auch baden-württembergischer Innenminister ist.

Menschen, die nun aus Afghanistan flüchteten, sollten vor allem in Nachbarländern unterkommen, die dafür internationale Unterstützung erhalten sollten. Ähnliche Warnungen formulierten CDU-Vize und Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner und Unionskanzlerkandidat und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der für eine Aufnahme von Flüchtlingen in begrenzter Zahl plädiert.

Aber ist tatsächlich zu erwarten, dass nach dem Siegeszug der Taliban noch einmal Menschen in einer ähnlichen Größenordnung kommen wie in den Jahren 2015 und 2016? Damals erreichten mehr als 1,1 Million Asylsuchende Deutschland, viele von ihnen aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Viele Fragen sind noch offen.

Wie viele Menschen sind in Afghanistan auf der Flucht?

Die Zahl der Binnenflüchtlinge ist mit Anfang Mai, also dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen und mehrerer Offensiven der Taliban, massiv gestiegen. Erst waren die Menschen aus den Bezirken in die Provinzhauptstädte geflohen, als zuletzt die Kämpfe auch in den Städten begannen dann noch einmal viele weiter in die Hauptstadt Kabul. Bis Anfang August verließen laut UN 390.000 Afghanen ihre Dörfer und Städte wegen Gefechten.

Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) von Anfang August verließen zu diesem Zeitpunkt jede Woche rund 30.000 Menschen das Land.

Es ist unklar, wie sich die Fluchtbewegungen nach der faktischen Machtübernahmen der Taliban entwickeln werden. Am Sonntag hieß es in einem UN-Bericht, mehr Binnenflüchtlinge in Kabul deuteten an, wieder in ihre Dörfer im Norden des Landes zurückzukehren.

Könnten die Menschen in den Nachbarländern unterkommen?

Die Bereitschaft in der Region Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, ist nicht besonders groß. Tadschikistan zumindest will Flüchtlinge akzeptieren und errichtet dazu ein Lager. Erst Anfang vergangenen Monats hatten mehr als 1000 afghanische Soldaten Zuflucht in dem zentralasiatischen Staat gesucht. Es hat aber auch wie Usbekistan seine Grenzsicherung verstärkt.

Auch Pakistan, wo laut UNHCR bereits rund 1,4 Millionen Afghanen als registrierte Flüchtlinge leben, schottet sich vermehrt ab. Der von Pakistan errichtete Grenzzaun zwischen den beiden Ländern ist praktisch fertiggestellt. Der Innenminister hatte erklärt, man werde Flüchtlingslager auf afghanischer Seite der Grenze errichten.

Am Dienstag sagte er, ungeachtet der aktuellen volatilen Lage in Afghanistan sei man mit keiner Flüchtlingskrise oder „Last“ konfrontiert.

Auch der Iran beherbergt seit Jahrzehnten Hunderttausende Afghanen. Die Dunkelziffer ist Experten zufolge aber deutlich höher. Das Land hat mit der Corona-Pandemie und einer Wirtschaftskrise zu kämpfen. Es gilt daher als unwahrscheinlich, dass die Regierung viele Afghanen ins Land lassen wird. Unklar ist, wie der Iran ohne Gewaltanwendung illegale Grenzübertritte von Flüchtlingen vermeiden will. Wegen der miserablen Bedingungen im Iran versuchen viele Afghanen, sich in die Türkei durchzuschlagen, die im Osten an den Iran grenzt.

Was könnte Deutschland oder die EU tun?

Wenn die Europäische Union eine weitere Flucht in ihre Richtung vermeiden wolle und die Menschen dort eine Perspektive finden sollten, seien Gespräche mit dem Iran und Pakistan nötig, sagt der Migrationsforscher Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Die Forderungen auch aus Iran und Pakistan nach humanitärer Unterstützung werden wahrscheinlich zunehmen - zumal die Länder am Beispiel der Türkei gesehen haben, was möglich ist.“ Die Türkei erhält von der EU Geld für die Versorgung syrischer Flüchtlinge.

Angenendt fordert zudem Hilfe für die Menschen, die innerhalb Afghanistans auf der Flucht sind. Außerdem müsse die Bundesregierung sich für eine internationale Initiative zur humanitären Aufnahme jener Afghanen einsetzen, die besonders von Menschenrechtsverletzungen bedroht seien, vor allem Frauen. Es gehe um überschaubare Zahlen, so Angenendt. „Dafür haben wir in Deutschland Kapazitäten.“

Wie ist die Situation in der Türkei?

Die Türkei ist schon seit Jahren sowohl Ziel- als auch Transitland für Afghanen. Neben den 3,6 Millionen Syrern lebt Schätzungen zufolge bis zu einer halben Million Afghanen im Land. Von einer neuen „Migrationswelle“ von Afghanen über den Iran, spricht Erdogan inzwischen. Er will das nicht dulden. Man werde „Ein- und Ausreise vollständig verhindern“, betonte er kürzlich. Dazu baut das Land an der Ostgrenze zum Iran eine Mauer.

Trotz der Abriegelung schaffen es Schätzungen von Beobachtern vor Ort zufolge täglich mindestens einige Hundert Afghanen aus dem Iran über die Grenze. Einheimische verdienen in dem schwer zu kontrollierenden bergigen Gebiet auch mit Schmuggel.

Können die Migranten dann nicht in der Türkei bleiben? Schließlich erhält das Land Geld von der EU.

Syrer in der Türkei stehen unter temporärem Schutz. Für sie erhält Ankara im Rahmen des sogenannten Flüchtlingspakts finanzielle Unterstützung. Die EU will dem Land weitere drei Milliarden Euro zahlen, diesmal könnte das Geld auch an Projekte für Afghanen fließen. In der Praxis könnte Unterstützung aber schwierig sein.

Viele Afghanen seien gar nicht registriert, sagt Menschenrechtsanwalt Mahmut Kacan, der sich in der Grenzprovinz Van für die Rechte von Migranten einsetzt. Besonders gefährdete Afghanen könnten zwar in der Türkei einen bedingten Schutzstatus zur Umsiedlung in ein Drittland beantragen, viele fürchteten aber, abgeschoben zu werden und lebten in der Illegalität. Die Türkei sei daher oft nur Transitland und das eigentliche Ziel Europa, so Kacan. Bis zur Weiterreise könnten aber Monate oder sogar Jahre ins Land gehen.

„Bei der Beantwortung der Frage, ob demnächst mehr Afghanen in die Europäische Union oder nach Deutschland gelangen, spielt die Türkei die Schlüsselrolle“, sagt Angenendt. „Deren Verhalten ist die große Unbekannte.“ Die EU müsse deshalb weitere Gespräche mit dem Land über die Versorgung von Flüchtlingen führen, ebenso wie mit dem Iran und Pakistan.

Im vergangenen Jahr hatte Erdogan die Grenze zu Griechenland für Migranten zeitweise für geöffnet erklärt; Tausende machten sich auf den Weg Richtung Europa. Und derzeit kippt die Stimmung angesichts der schwächelnden Wirtschaft. Vergangene Woche zog ein Mob durch die Straßen der Hauptstadt Ankara, warf Steine auf Häuser von Syrern und plünderte Geschäfte.

Wie sieht es mit einer Weiterreise in die EU und nach Deutschland aus?

Griechenland als westlicher Nachbar der Türkei und Land an der südöstlichen EU-Außengrenze jedenfalls will mögliche afghanische Migranten stoppen. Dies sagte Migrationsminister Notis Mitarakis am Dienstag angesichts der dramatischen Entwicklungen in Afghanistan. „Wir wollen nicht, dass unser Land das Einfallstor der EU für Menschen wird, die nach Europa aufbrechen wollen“, sagte Mitarakis im griechischen Staatsfernsehen (ERT). Griechenland überwacht See- und Landgrenzen mit zahlreichen Patrouillen und hindert Migranten am Übersetzen auf die griechischen Inseln.

Selbst wer es nach Griechenland schafft, hat es heute schwerer als vor einigen Jahren. Ungarn hat an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun errichtet. Die Polizei in den EU-Ländern Ungarn, Bulgarien oder Kroatien schafft Ankömmlinge wieder außer Landes, wenn sie sie fasst.

In Deutschland kamen im Juli nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mehr als 12.000 Asylsuchende an, fast 19 Prozent mehr als im Vormonat. Die größte Gruppe unter denen, die erstmals Asyl beantragten, waren Syrer (4759 Menschen), gefolgt von Afghanen (2353).

© dpa-infocom, dpa:210817-99-873021/4

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