Washington/Kabul (dpa)
Was nach 20 Jahren Afghanistan-Einsatz bleibt
Der internationale Einsatz in Afghanistan endet desaströs. Der Westen zieht ab und überlässt das Feld den Taliban. War alles umsonst?
Hunderttausende Soldaten aus Dutzenden Staaten, westliche Hilfsgelder in Milliardenhöhe, ein beispielloser Kraftakt der Internationalen Gemeinschaft - und trotzdem herrschen in Afghanistan wieder die Taliban.
Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul ist in der Nacht der internationale Afghanistan-Einsatz zu Ende gegangen. Der Westen überlässt das Land jetzt wieder jenen Islamisten, die er Ende 2001 entmachtet hatte. Was bleibt nach fast 20 Jahren Einsatz?
Der Westen ist gescheitert
Eine vor allem mit russischen Sturmgewehren und Panzerfäusten bewaffnete Islamisten-Truppe hat sich gegen die Supermacht USA und deren Verbündete durchgesetzt, die zeitweise mehr als 100.000 internationale Soldaten im Einsatz hatten. Zum 20. Jahrestag der Al-Kaida-Anschläge vom 11. September 2001 - die den US-geführten Einmarsch in Afghanistan auslösten - weht wieder die weiße Flagge der Taliban über Kabul. Jenseits der Bekämpfung des Terrorismus sei alles „nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben“, räumte Kanzlerin Angela Merkel ein. „Das ist eine Erkenntnis, die ist bitter.“
Al-Kaida ist geschwächt
US-Präsident Joe Biden argumentiert, das wesentliche Ziel des Einsatzes sei spätestens mit der Tötung von Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden vor gut zehn Jahren erreicht worden. Die Organisation ist geschwächt, und tatsächlich mussten die USA seit dem 11. September 2001 keinen ähnlichen Terrorangriff mehr durchleiden. Der Sieg der Taliban ist aber auch ein später Triumph Al-Kaidas, die Organisation ist immer noch in weiten Teilen Afghanistans präsent. Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagt: „Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen.“
Dschihadisten weltweit sind ermutigt
Steinberg spricht von einem „Weckruf für die globale dschihadistische Bewegung“. Anhänger radikaler und gewaltbereiter Gruppen dürften sich in ihrer Ansicht bestätigt fühlen, dass sie nur ausharren müssen, bis dem Westen die Geduld ausgeht - die Taliban haben es vorgemacht. Das könnte auch der (mit den Taliban verfeindeten) Terrormiliz Islamischer Staat (IS) neuen Zulauf bringen. IS-Zellen sind in Afghanistan, aber auch in Syrien und dem Irak aktiv - in diesen Ländern wird ein Abzug der US-Truppen früher oder später ebenfalls zur Debatte stehen.
Das Vertrauen in die USA ist erschüttert
Das gilt auf mehreren Ebenen: Die europäischen Verbündeten haben erleben müssen, dass Biden zwar Partnerschaft predigt, bei zentralen Fragen aber - wie sein Vorgänger Donald Trump - doch alleine entscheidet. Das galt beim Truppenabzug ebenso wie bei der Evakuierungsmission. Desillusioniert sind aber vor allem jene Afghanen, die den Versprechen geglaubt haben, dass der Westen sie nicht im Stich lassen würde. Zuletzt erlitten ein ähnliches Schicksal die mit den USA verbündeten Kurden in Nordsyrien: Trump zog 2019 einen Großteil der US-Truppen aus dieser Region ab, während der russische Präsident Wladimir Putin fest an der Seite des syrischen Machthabers Baschar al-Assad steht.
China und Russland sind gestärkt
Während westliche Staatsbürger nach der Machtübernahme der Taliban die Flucht ergriffen, ließen Russland und China ihre Botschaften in Kabul geöffnet. Taliban-Vizechef Mullah Ghani Baradar, der als möglicher künftiger Regierungschef in Kabul gehandelt wird, wurde bereits im Juli in Moskau und Peking empfangen. 1989 war die Rote Armee erfolglos aus Afghanistan abgezogen, nun sind dort auch die Amerikaner gescheitert - Balsam für das russische Selbstvertrauen. China wiederum sieht sich als kommende Supermacht - und die USA auf dem absteigenden Ast.
Biden ist angeschlagen
In den Chaos-Tagen rund um den Abzug und die Evakuierungen hat Biden deutlich an Zustimmung verloren. Nach den Statistikern der Webseite FiveThirtyEight, die Umfragen zusammenführen und gewichten, sind erstmals mehr Menschen unzufrieden als zufrieden mit seiner Amtsführung. Eine Mehrheit der Amerikaner hält den Abzug der US-Truppen allen Umfragen zufolge zwar für richtig. Ebenso bescheinigt eine Mehrheit Biden aber schlechtes Management in seiner bislang schwersten außenpolitischen Krise. Biden selber räumt keine Fehler ein.
Die Bundeswehr hat kämpfen gelernt
Als „Bad Kundus“ wurde der Einsatzort der Bundeswehr zunächst verspottet, doch die Ruhe in Nordafghanistan sollte nicht lange vorhalten. Die Taliban erstarkten, deutsche Soldaten wurden getötet - und Bundeswehr-Soldaten töteten ihre Gegner im Gefecht. Das Bild vom Brunnenbohrer in Uniform, das manche Politiker gerne gepflegt hätten, hatte bald nicht mehr viel mit der Realität zu tun. Wie schwer sich die Politik in Berlin mit der neuen Rolle der Bundeswehr tat, zeigte im Jahr 2009 beispielhaft die Diskussion darüber, ob Deutschland in Afghanistan in einen „Krieg“ verwickelt sei - oder nur in einen „bewaffneten Konflikt“.
Der Blutzoll war enorm
Mehr als 3500 ausländische Soldaten kostete der Afghanistan-Einsatz ihr Leben, unter ihnen auch 59 Deutsche. Unter den internationalen Truppen hatten die Vereinigten Staaten die mit Abstand schwersten Verluste, mehr als 2460 US-Soldaten starben in Amerikas längstem Krieg. Schätzungen zufolge wurden mehr als 45.000 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte getötet, auch Zehntausende Taliban-Kämpfer dürften ihr Leben verloren haben. Alleine seit Beginn der Zählung der Vereinten Nationen im Jahr 2009 kamen mehr als 40.000 Zivilisten ums Leben.
Die Kosten waren gigantisch
Zeitweise kostete der Einsatz die USA mehr als 100 Milliarden Dollar im Jahr (knapp 85 Milliarden Euro). Mit der Verringerung der Truppenzahl sanken die Kosten. Für den Wiederaufbau Afghanistans hatten die USA in den vergangenen 20 Jahren insgesamt mehr als 143 Milliarden Dollar eingeplant, mehr als 88 Milliarden Dollar davon sollen den afghanischen Sicherheitskräften zugute kommen. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan kostete seit Ende 2001 mehr als zwölf Milliarden Euro. Zusätzlich zahlte die Bundesregierung jedes Jahr mehrere hundert Millionen Euro für humanitäre Hilfe, Entwicklungshilfe und Wiederaufbau in Afghanistan.
In Afghanistan hat es Fortschritte gegeben
Im Abzugschaos ist in den Hintergrund gerückt, dass in Afghanistan in den vergangenen Jahren viel erreicht wurde. Zwei von vielen Beispielen: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 56 Jahren 2001 auf zuletzt 63 Jahre angestiegen, die Zahl der Schüler ist von 900.000 (nur Jungen) auf 9,5 Millionen (davon knapp 40 Prozent Mädchen) angewachsen. Unklar ist, welche Errungenschaften die Neuauflage des Taliban-Regimes überleben werden, ganz besonders gilt das für die Frauenrechte. Wie die Welt erfahren wird, was in Afghanistan künftig geschieht, ist ebenfalls offen. Zumindest besteht die Hoffnung, dass die Islamisten Afghanistan nicht wieder gänzlich abschotten können - Handynetze sind gut ausgebaut, Smartphones weit verbreitet.
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