Paris (dpa)
Prozess um Terroranschläge von Paris gestartet
Die Terroranschläge vom 13. November 2015 beschäftigen Frankreich bis heute. In einem Mammutverfahren sollen nun zentrale Verdächtige zur Verantwortung gezogen werden.
Die Luft ist vor Spannung geladen und die Erinnerung an die Terrornacht vor sechs Jahren wieder greifbar nah, als Salah Abdeslam im Pariser Gerichtssaal zu sprechen beginnt.
Er gilt als einer der Haupttäter und einziger Überlebender des Terrorkommandos, das in der französischen Hauptstadt bei einer islamistischen Anschlagserie 130 Menschen tötete, 350 verletzte und das ganze Land traumatisierte. Gleich in seinen ersten Worten zum Prozessauftakt am Mittwoch im Pariser Justizpalast, als es eigentlich um seine Personalien geht, bekennt er sich als Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Dies sei sein Beruf.
Umringt von Polizisten und hinter Panzerglas kann er keinen physischen Schaden mehr anrichten. Kooperieren scheint er aber nicht zu wollen, gibt sich stur, verweigert eine einfache Auskunft über seine Eltern. Aus der Fassung bringen kann er das Gericht damit aber nicht.
Die Sicherheitsvorkehrungen, die in Frankreich wegen Terrordrohungen ohnehin schon enorm sind, wurden für den „Bataclan“-Prozess noch einmal hochgefahren. Fast 1000 Polizistinnen und Polizisten sichern das Verfahren, der Justizpalast ist weiträumig abgesperrt und von Spezialkräften umringt. Der Staat demonstriert Stärke.
Ganz anders das Bild im Inneren. Der Verhandlungssaal in hellem Holz und mit weißen Bänken strahlt fast sterile Ruhe aus. Er wurde eigens für das in der französischen Presse „Jahrhundertverfahren“ genannte Ereignis hergerichtet. Insgesamt bietet er 550 Menschen Platz, zum Prozessauftakt war ein Großteil des Saals von den schwarzen Talaren der Anwälte eingenommen. Angehörige und Betroffene finden im Saal selbst und im Gerichtsgebäude psychologische Betreuung. Auch Übertragungsräume wurden geschaffen, für die, die nicht im Verhandlungssaal sein wollen oder keinen Platz mehr finden.
130 Menschen erschossen und 350 weitere verletzt
Bei der Anschlagsserie am 13. November 2015 hatten Extremisten im Konzertsaal „Bataclan“ sowie in Bars und Restaurants 130 Menschen erschossen und 350 weitere verletzt. Am selben Abend sprengten sich außerdem drei Selbstmordattentäter während eines Fußball-Länderspiels zwischen Deutschland und Frankreich am Stade de France in die Luft. Der IS reklamierte die Anschläge für sich.
Angeklagt sind in dem Prozess zu den Anschlägen nun 20 Verdächtige. Abdeslam (31) steht dabei im Mittelpunkt. 13 weiteren Angeklagten wird die Unterstützung der Terroreinheit vorgeworfen. Sie sollen Papiere besorgt, Abdeslam außer Landes gefahren oder in zwei Fällen verhinderte Attentäter sein.
Gegen sechs andere Angeklagte wird der Prozess in Abwesenheit geführt. Fünf von ihnen kamen vermutlich in der Zwischenzeit in Syrien ums Leben, einer ist wegen Terrorvorwürfen in der Türkei inhaftiert. Der Mehrheit der Angeklagten drohen in dem bis Mai 2022 angesetzten Verfahren 20 oder mehr Jahre Haft. Abdeslam wurde wegen Schüssen auf die Polizei kurz vor seiner Festnahme bereits in Belgien zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Prozess ist in Frankreich seit Tagen eines der wichtigsten Gesprächsthemen. Zahlreiche Überlebende schilderten erneut das kaum fassbare Grauen, das sie erlebt haben, und ihre schwere Suche nach einem Leben danach.
Gaëlle (39) etwa erklärte der Zeitung „Le Parisien“, wie sie im „Bataclan“ von Kalaschnikow-Schüssen an Arm und Gesicht getroffen auf dem Boden lag. „Das dauerte sehr lange, ich bekam Halluzinationen, als mein Bewusstsein schwand. Ich sah meinen Sohn vor mir, der sagte: Mama, du musst aufstehen. Ich wollte nicht, dass er mich verliert. Ich hatte nur eine Sorge: dass alles explodiert.“ Schließlich brachte ein Polizist sie aus dem Saal, mit weiteren Schwerverletzten lag sie zunächst auf dem Boden eines Restaurants. Um ihre zertrümmerte Gesichtshälfte zu rekonstruieren, brauchte es bis heute 40 Operationen - ihr Freund Mathieu, der sie begleitet hatte, kam nicht mehr lebend aus dem Saal.
Yolande Meaud verlor in der Terrornacht ihre Zwillingstöchter Charlotte und Emilie, beide waren 29 Jahre alt, erschossen auf der Terrasse des Cafés „Carillon“. „Ich möchte, dass die verborgenen Wahrheiten ans Licht kommen und erfahren, ob es Schwachstellen in den staatlichen Strukturen gibt. Davon gehe ich aus“, sagte sie zum Prozessstart dem Sender France Bleu. „Der Prozess ist eine Sache, aber das ist natürlich nicht das Ende des Schmerzes, den man empfindet.“ Ihrer Töchter gedenke sie ein Mal pro Jahr bei einem Besuch auf der Terrasse des Cafés, wo sie gestorben sind.
Nicht zuletzt angesichts des enormen Leids, das die Betroffenen erfahren haben, spricht der Vorsitzende Richter Jean-Louis Périès zu Beginn von einem außergewöhnlichen und historischen Prozess. Allein der Rahmen ist beachtlich. Der monatelang intensiv vorbereitete Prozess versammelt mehr als 1700 Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Die ersten beiden Prozesstage werden daher damit zugebracht, ihre Namen zu verlesen. Später sollen dann etwa 300 Opfer und ihre Angehörige das Erlebte schildern, unter Hunderten geladenen Zeugen ist auch der damalige französische Präsident François Hollande. Trotz des Riesenaufgebots wird der Prozess die vom Terror in der Seele Frankreichs geschaffenen Wunden nur in Teilen heilen können.
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