Warschau (dpa)
Ex-EU-Ratspräsident schließt EU-Austritt Polens nicht aus
Derzeit ist es vor allem der Streit über die polnische Justizreform, der die Beziehung zwischen Brüssel und Warschau belastet. Könnten die Polen irgendwann dem Beispiel der Briten folgen und der EU den Rücken kehren?
Der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk hält einen Austritt seines Landes aus der EU nicht für ausgeschlossen.
Polen könne „schneller, als es irgendwem scheint“ kein EU-Mitglied mehr sein, wenn die derzeitige Kampagne der nationalkonservativen Regierungspartei PiS aus den Händen gleite, sagte Tusk am Freitag dem Sender TVN24. Tusk ist kommissarischer Vorsitzender von Polens größter Oppositionspartei, der liberalkonservativen Bürgerplattform.
Ein hochrangiger Vertreter der PiS hatte vor zwei Tagen die weitere Zusammenarbeit Polens mit der EU infrage gestellt und damit eine landesweite Debatte angestoßen. „Wir müssen darüber nachdenken, wie viel weiter, wie viel mehr wir noch zusammenarbeiten können, damit wir alle in der EU bleiben, und damit diese EU für uns annehmbar ist“, hatte PiS-Fraktionschef Ryszard Terlecki am Mittwoch bei einem Wirtschaftsforum in Karpacz gesagt und auf den Brexit verwiesen.
Polen müsse auch über „drastische Schritte“ nachdenken. Ein Regierungssprecher betonte daraufhin, der Austritt Polens aus der EU sei nicht geplant.
Der anhaltende Streit zwischen Warschau und Brüssel um die polnischen Justizreformen hat sich zuletzt weiter verschärft. Die EU-Kommission beantragte am Mittwoch beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) finanzielle Sanktionen gegen Polen. Hintergrund ist die fortgesetzte Tätigkeit einer Disziplinarkammer zur Bestrafung polnischer Richter.
Unterdessen hat sich Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orban im Streit um die polnische Justizreformen auf die Seite Warschaus gestellt. Der jüngst von der EU-Kommission gestellte Antrag auf finanzielle Sanktionen gegen Polen sei „beispiellos“, heißt es in einem von Orban unterschriebenen Regierungsbeschluss, den das Ungarische Amtsblatt am späten Donnerstagabend veröffentlichte.
„Ungarn steht für Polen ein“, heißt es in dem Dokument. Mit ihrem Sanktionsantrag habe die EU-Kommission „zahlreiche Bestandteile der Souveränität eines Mitgliedslandes verletzt“. Justizministerin Judit Varga soll nun prüfen, wie Ungarn in das vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) laufende Verfahren zugunsten Polens eingreifen könne.
Auch in dem seit 2010 von Orban regierten Ungarn bestehen Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit. Unter anderen wird die ungarische Staatsanwaltschaft Kritikern zufolge dermaßen von Orban-Loyalisten kontrolliert, dass Verfahren wegen mutmaßlicher Korruption im Umfeld der Regierungspartei Fidesz und der Orban-Familie so gut wie nie eingeleitet werden.
Ungarn und Polen erhalten bedeutende Transferzahlungen von der EU. Beide Länder betrachten das Pochen der EU auf Rechtsstaatlichkeit beim Umgang mit diesen Geldern als Eingriff in ihre „Souveränität“.
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