Genf (dpa)
Afghanistan: UN-Mitarbeiter berichten von steigender Gewalt
Die Not in Afghanistan ist groß. Die internationale Gemeinschaft will helfen - und trifft sich in Genf zu einer Konferenz. Hilfszusagen sollen aber an Bedingungen geknüpft werden.
Mitarbeiter von UN-Organisationen in Afghanistan sind immer öfter Angriffen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Das berichtete UN-Menschenrechtschefin Michelle Bachelet am Montag vor einer internationalen humanitären Geberkonferenz für das Land, das seit Mitte August von den militant-islamistischen Taliban kontrolliert wird.
Laut Berichten aus Afghanistan würden die Taliban gezielt Hausdurchsuchungen durchführen um nach Menschen zu suchen, die für die abgezogenen US-Streitkräfte und amerikanische Firmen gearbeitet hatten. UN-Mitarbeiter seien davon ebenfalls betroffen, sagte die Hochkommissarin. UN-Organisationen haben seit dem Machtwechsel in Afghanistan betont, dass sie auch weiterhin den Menschen im Land helfen wollen. Gleichzeitig haben sie Bewegungsfreiheit und Sicherheit von den neuen Machthabern eingefordert.
Bachelet zeigte sich allgemein besorgt über die zunehmende Gewalt in Afghanistan, die sich zuspitzende Versorgungslage der Bevölkerung und den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben. „Grundrechte und Freiheiten stehen allen Menschen in Afghanistan zu“, sagte sie.
Knapp einen Monat nach der Rückkehr der Taliban an die Macht die internationale Gemeinschaft in Genf eine Geberkonferenz ab. Ziel des Treffens unter dem Dach der Vereinten Nationen ist, den Hunger in dem zentralasiatischen Land zu bekämpfen und das öffentliche Leben vor dem Zusammenbruch zu bewahren. UN-Hilfsorganisationen haben einen Finanzbedarf von 606 Millionen Dollar (513 Millionen Euro) bis Dezember angemeldet. Viele Länder sind zu humanitärer Hilfe bereit, wollen daran aber Bedingungen knüpfen.
Etwa 40 Minister
Zu der Konferenz werden etwa 40 Minister erwartet, darunter der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD). Auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres will nach Genf kommen. Viele andere sind nur per Videoschalte dabei. Die Taliban sind in Afghanistan seit Mitte August wieder an der Macht. Die internationalen Truppen haben das Land nach annähernd 20-jährigem Einsatz nahezu vollständig wieder verlassen.
Außenminister Maas sagte vor dem Abflug nach Genf: „Es liegt an uns als internationale Gemeinschaft, jetzt Verantwortung für die Menschen in Afghanistan zu übernehmen und humanitäre Hilfe dort zu leisten, wo sie so dringend benötigt wird.
Dies setzt entsprechenden Zugang für die humanitären Organisationen in Afghanistan ebenso voraus wie die Tatsache, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit nicht Einschüchterung, Willkür und Einschränkungen durch die Taliban fürchten müssen.“ Klar sei, ein über reine Nothilfe hinausgehendes Engagement in Afghanistan stehe weiter nicht zur Debatte. Allein das Handeln der Taliban werde darüber entscheiden, ob diese Linie in Zukunft angepasst werden könne.
Müller fordert Reform
Entwicklungsminister Gerd Müller forderte eine grundlegende Reform der internationalen Nothilfe. „Mit einem UN-Nothilfe- und Krisenfonds von 10 Milliarden Euro könnten wir vorausblickend weltweit Tod durch Hunger und fehlende Medikamente verhindern“, sagte der CSU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Das System der internationalen Hilfe müsse sich verändern - weg von der Krisenintervention hin zur Krisenprävention. „Es kann nicht sein, dass erst gestorben werden muss. Es gilt, vorsorgend zu investieren.“ Die internationale Gemeinschaft müsse jetzt schnell handeln und alles tun, um die Grundversorgung der afghanische Bevölkerung aufrecht zu erhalten.
Afghanistan vor dem Kollaps
Nach Einschätzung von UN-Behörden steht die Grundversorgung in Afghanistan vor dem Zusammenbruch. Mit humanitärer Hilfe sollen medizinische Leistungen, Wasserversorgung und sanitäre Einrichtungen aufrecht erhalten werden. Zudem sollen Schutzmaßnahmen für Kinder und Frauen, Notunterkünfte für Vertriebene sowie Bildungsprojekte finanziert werden. Außerdem brauchen die Vereinten Nationen Geld für Nahrungsmittelhilfe. Nach UN-Zahlen haben 93 Prozent der Haushalte in Afghanistan nicht genug zu essen.
UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi warnte am Sonntag, dass ein „Wiederaufflammen der Kämpfe, Menschenrechtsverletzungen oder der Zusammenbruch der Wirtschaft und der sozialen Grundversorgung“ viele Afghanen zur Flucht ins Ausland bewegen könnte. Die Nachbarländer, besonders Iran und Pakistan, hätten jedoch bereits Millionen aufgenommen, sagte Grandi dem „Tagesspiegel“. Mehr als 3,5 Millionen Menschen seien derzeit innerhalb des Landes auf der Flucht.
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