Berlin (dpa)

Erster Klimaaktivist wegen Hungerstreik im Krankenhaus

Verena Schmitt-Roschmann, dpa
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Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa
| 15.09.2021 05:21 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Im Berliner Regierungsviertel befinden sich mehrere Klimaaktivisten seit Tagen in einem Hungerstreik. Nun musste einer von ihnen per Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden. Foto: Paul Zinken/dpa
Im Berliner Regierungsviertel befinden sich mehrere Klimaaktivisten seit Tagen in einem Hungerstreik. Nun musste einer von ihnen per Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden. Foto: Paul Zinken/dpa
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Sie nennen sich „die letzte Generation“, der Politik werfen sie „Mord“ und „Verrat“ vor: Der Hungerstreik einiger junger Aktivisten setzt die Kanzlerkandidaten vor der Bundestagswahl unter Druck.

Simon Helmstedt ist ein schmaler junger Mann mit blassblauen Augen und blondem Pferdeschwanz. Schon vor zwei Wochen, an Tag drei seines Hungerstreiks für eine radikale Klimawende, wirkte der 22-jährige Biologiestudent hohlwangig, hager, geschwächt.

Jetzt kann sich Helmstedt kaum noch auf den Beinen halten. Er sitzt auf einem Plastikstuhl auf der Wiese im Klimacamp in der Nähe des Berliner Reichstags. „Die letzten drei Tage waren hart“, sagt Helmstedt. Er habe ans Aufhören gedacht. „Aber... nein.“ Die Ziele seien noch nicht erreicht. Es geht weiter.

Die Ziele der sechs Hungerstreikenden - das ist zum einen ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten über die Realität der Klimakatastrophe, zum anderen die Einsetzung eines Bürgerrats, der der Politik Sofortmaßnahmen zum Klimaschutz vorgeben soll. Die Angesprochenen - Armin Laschet (CDU/CSU), Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) - haben inzwischen die Hungernden aufgefordert, die Protestaktion abzubrechen. Dann seien die Kandidaten zu Gesprächen bereit, nach der Bundestagswahl, einzeln und nicht öffentlich. Ob das reicht?

Mit dem Krankenwagen in die Charité

Die Forderungen der jungen Leute scheinen fast harmlos, gemessen an der Radikalität der Mittel. Die Aktivisten verweigern inzwischen nach eigenen Angaben auch verdünnte Fruchtsäfte, nehmen nur noch Wasser zu sich und Vitaminpillen. Immerhin schauen regelmäßig Ärzte und Sanitäter nach ihnen. Mehrfach seien Hungernde zusammengeklappt, sagt die Pressesprecherin der Aktion, die 20-jährige Hannah Lübbert. Am Dienstagnachmittag geht es dem hungernden Jacob Heinze so schlecht, dass seine Gefährten einen Krankenwagen rufen. Der 27-Jährige wird in die Charité gebracht.

Auf Twitter hat Heinze vorher geschrieben: „Seien wir ehrlich zueinander. Wir sind komplett am Arsch.“ Es blieben nur drei Jahre Zeit für die Klimawende, doch keine der Parteien bei der Bundestagswahl nehme die Gefahr von unumkehrbaren Kipppunkten ernst. Es gelte, „das tödliche Weiter-So zu verhindern. Es geht um alles.“

Die Wortwahl ist drastisch, die Verzweiflung spürbar. Sie nennen sich „die letzte Generation“, die noch etwas gegen den Klimawandel tun könne. Sie verweisen auf Erkenntnisse des Weltklimarats IPCC. Der Politik werfen sie „Verrat“ vor und „Mord an der jungen Generation“. Nach 30 Jahren Klimadebatte, nach drei Jahren Protest von Greta Thunberg, nach zwei Jahren Massendemonstrationen von Fridays for Future und Aktionen der Extinction Rebellion: Einige der jungen Leute haben die Geduld verloren.

Driften einige in der Klimaszene ab?

Bei Demonstrationen zur Automesse IAA in München gab es vorige Woche vereinzelt sogar Gewalt. An zwei von Aktivisten besetzten Bäumen nutzte die Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray, weil sich Beamte bedrängt fühlten. Das wiederum kritisierten die Protestierenden. Verändert sich hier etwas Grundsätzliches, driften einige in der Klimabewegung ab? „Ich hoffe nicht, weil ich mag keine Gewalt“, sagt Aktivist Helmstedt. „Aber ich kann Menschen verstehen, die Gewalt anwenden, wenn ihr Leben bedroht ist. Und genau das ist es gerade.“

Der Hungerstreik, das betont Sprecherin Lübbert, sei komplett friedlich: „Wir tun niemandem etwas an, und wir drohen auch niemandem, wir sind nur bereit, persönliche Opfer zu bringen, weil die Sache so ernst und so wichtig ist.“ Helmstedt sagt aber auch, gemünzt auf den Hungerstreik: „Wenn eine Politik komplett versagt, auch nur ansatzweise an der Realität zu sein, dann zwingt diese Politik zu radikalsten Mitteln.“

In das Urteil des Versagens schließt er selbstverständlich auch die Grünen ein - obwohl deren Politik womöglich vielen Wählern schon zu weit geht. „Es geht nicht darum, was politisch möglich ist, es geht darum, was physikalisch nötig ist“, sagt Helmstedt. Dass mit dem geforderten Bürgerrat das demokratisch gewählte Parlament zum Teil umgangen werden könnte, lässt er ebenfalls nicht gelten.

Hoffnung auf radikale Entscheidungen

Helmstedt ist überzeugt, dass das Gremium, zusammengesetzt aus allen Teilen der Bevölkerung, genau die drastischen Klimaschutzmaßnahmen gut heißen würde, vor der sich die Politik scheut - weil sie teuer sind oder Einschränkungen erfordern oder bestimmte Gruppen treffen würden. Die Erfahrung zeige, dass Bürgerräte so radikale Entscheidungen treffen, weil sie auf wissenschaftlicher Basis und ohne Lobbyinteressen im Hintergrund passierten, meint der junge Mann, der immer wieder lange Pausen im Gespräch lässt, offenkundig am Ende seiner Kräfte.

Einen „Bürgerrat Klima“ gibt es sogar schon, die Schirmherrschaft hat der frühere Bundespräsident Horst Köhler. Die 160 Mitglieder haben gerade Ergebnisse vorgelegt. Damit sollen die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 erreicht werden, was auch die Hungerstreikenden wollen. Die ganz schnelle Wende sieht dieser Bürgerrat aber nicht. So heißt es zum Beispiel: „Die gesamte Energieversorgung Deutschlands soll bis 2035 zu 70 Prozent und bis 2040 zu 90 Prozent aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden.“

Baerbock und Co. in der Zwickmühle

Für die Hungernden zählen erstmal die nächsten Tage. Weil sie mit den Büros von Laschet, Scholz und Baerbock nach eigenen Angaben nicht weiterkamen, setzten sie den drei Kandidaten kurzerhand selbst einen Termin für das geforderte öffentliche Gespräch: 23. September, drei Tage vor der Bundestagswahl. Baerbock und Co sehen sich in der Zwickmühle, weil sie einerseits die jungen Leute nicht ignorieren können, andererseits aber auch keine Nachahmer wollen.

„Trotz unterschiedlicher politischer Positionen stimmen Frau Baerbock, Herr Laschet und Herr Scholz darin überein, dass sie diese Art des Protests nicht angemessen finden“, erklärten die Grünen im Namen der drei Kontrahenten. An die Aktivisten appellierten sie: „Es ist wichtig, dass Sie Ihr Leben schützen. Die Gesellschaft braucht Ihr Engagement.“

© dpa-infocom, dpa:210915-99-221864/6

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