Berlin (dpa)
Grüne mit wenig Selbstkritik auf Regierungskurs
So glatt verlief ein Grünen-Parteitag selten: In gerade einmal zwei Stunden feiern die Grünen sich selbst, benennen ihre Sondierungsteams und legen weitere Schritte auf dem Weg zu einer möglichen Regierungsbeteiligung fest. Selbstkritik wird kaum laut.
Vor ersten Gesprächen mit der SPD gehen die Grünen fest von einer künftigen Regierungsbeteiligung aus. Grünen-Chef Robert Habeck stellte seine Partei am Samstag auf einem Kleinen Parteitag in Berlin auf „vier anstrengende Jahre“ ein.
„Wenn wir uns nicht komplett dämlich anstellen, werden wir in den nächsten vier Jahren diese Regierung nicht nur mittragen, sondern maßgeblich mitbestimmen“, sagte Habeck. „Ab jetzt, ab Weihnachten vielleicht, ist jede Krise unsere Krise, ist jede Herausforderung unsere Herausforderung.“
Trotz eines Wahlergebnisses, das hinter den Erwartungen zurückblieb, wurde Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock gefeiert. Die etwa 100 Delegierten bestätigten zudem die von der Parteiführung vorgeschlagenen Sondierungsteams für die Gespräche mit anderen Parteien. Über einen möglichen Koalitionsvertrag sollen die Mitglieder entscheiden.
Kritik am Wahlkampf
Es gehe nun um die Bildung einer Regierung, „die danach das Land zu einem anderen gemacht haben wird“, sagte Habeck. Deutschland müsse wieder „auf der Höhe der Verhältnisse und der Probleme der Gegenwart“ agieren. „Das wird allerdings nicht ohne Debatten, ohne Zumutungen, ohne Anstrengungen möglich sein.“
Eine auch kritische Bilanz des Grünen-Wahlkampfs zog erneut Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. „Es war nicht der Wahlkampf, den ich geführt haben wollte“, sagte Kellner. Die Analyse solle mit externer Hilfe geschehen, auch eine Mitgliederbefragung sei geplant. Nach einem „fulminanten Start“ sei es nicht gelungen, das Momentum zu halten. „14,8 Prozent ist zwar ein Rekord für uns, aber es war mehr drin“, sagte Kellner, der auch Wahlkampfmanager der Grünen war. In den Umfragen schnitten die Grünen lange deutlich besser ab, längere Zeit pendelten sie um die 20 Prozent.
Jubel für Baerbock
Grünen-Chefin Baerbock, deren Buch wegen Plagiatsvorwürfen den Wahlkampf belastet hatte, wurde gleichwohl mit stehenden Ovationen empfangen. Der langjährige Grünen-Politiker Jürgen Trittin stärkte ihr ausdrücklich den Rücken und sprach von einer „durchgehend frauenfeindlichen Kampagne“ gegen sie. Baerbock habe wichtige öffentliche Auftritte dennoch souverän absolviert. „Du hast unseren Anspruch, diese Gesellschaft zu verändern, auch um den Preis der Diffamierung deiner Person durchgestanden.“ Das Wahlergebnis - das beste der Grünen-Geschichte - könne sich sehen lassen.
Baerbock betonte, die Grünen seien von sieben Millionen Menschen gewählt worden, darunter viele junge. Es gebe einen Auftrag, als Teil der Regierung für eine wirkliche Erneuerung des Landes zu sorgen.
„Wir haben in Deutschland erst einmal mitregiert“, sagte Baerbock im Rückblick auf die beiden rot-grünen Koalitionen unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005. Anders als damals, als ihre Partei nur ein kleiner Partner gewesen sei, wollten die Grünen in der nächsten Regierung für einen großen Aufbruch und gesellschaftliche Erneuerung sorgen.
Parteibasis soll mitentscheiden
Sollten die Sondierungsgespräche mit einer Empfehlung für Koalitionsverhandlungen abgeschlossen werden, wird bei den Grünen ein Kleiner oder Großer Parteitag darüber entscheiden. Kellner empfahl, bei der von den Grünen favorisierten Ampel-Koalition einen Kleinen Parteitag entscheiden zu lassen.
Die Grundlage für eine mögliche Regierungsbeteiligung, den angestrebten Koalitionsvertrag, will sich die Partei von ihren rund 120.000 Mitgliedern billigen lassen. Das kann nach Angaben von Bundesgeschäftsführer Kellner, wenn es soweit ist, in weniger als zwei Wochen geschehen. Auch über ihre personelle Aufstellung in einer neuen Bundesregierung sollen die Mitglieder entscheiden. Einen entsprechenden Antrag des Parteivorstands beschlossen die etwa 100 Delegierten bei nur einer Enthaltung. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Grünen, dass es eine Urabstimmung über einen Koalitionsvertrag auf Bundesebene gibt.
Der Parteitag billigte auch die vom Vorstand vorgeschlagene Besetzung des engeren und des erweiterten Sondierungsteams. Der engere Kreis um die Partei- und Fraktionschefs umfasst zehn Personen. Ein 14-köpfiges Team soll zudem Gespräche vor- und nachbereiten.
Bislang haben die Grünen mit der FDP sogenannte Vorsondierungen geführt. Am Sonntag steht erstmals auch ein Gespräch mit der SPD an, am Dienstag mit der Union. Auch die FDP beginnt am Wochenende mit Treffen mit den beiden potenziellen größten Partnern in einer Dreierkoalition. Die Grünen streben eine Koalition mit SPD und FDP („Ampel“) an, schließen aber auch ein Bündnis mit Union und FDP (wegen der Flaggenfarben „Jamaika“ genannt) nicht aus.
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