Braunschweig (dpa)
Warten auf Winterkorn
Im großen VW-Dieselprozess sind die ersten Wochen vorüber. Doch ganz so „groß“ ist das Strafverfahren zum Abgasbetrug bisher gar nicht: Ex-Konzernchef Winterkorn bleibt abwesend.
Es ist ein Prozessdrama ohne Hauptdarsteller. Während ausgerechnet der frühere VW-Chef Martin Winterkorn das Betrugsverfahren zur Entstehung von „Dieselgate“ weiter aus der Ferne verfolgen darf, überziehen die anderen vier Angeklagten ihn und sich gegenseitig mit Vorwürfen.
Die Lage am Landgericht Braunschweig wird zusehends unübersichtlich. Drei Wochen läuft die Hauptverhandlung nun, ein zäher Fortgang zeichnet sich ab - womöglich bis Mitte 2023.
Wer wusste wann was wie detailliert über die Täuschungssoftware in Millionen Autos, ehe diese 2015 mit einem großen Knall aufflog? Die Anklage hat ihre Ermittlungsergebnisse und Anschuldigungen gegen die ehemaligen VW-Manager und -Ingenieure offensiv vorgetragen. Sie sieht darin eindeutige Belege für gewerbs- und bandenmäßigen Betrug.
Eine zentrale Figur fehlt
Die schon vor Gericht stehenden Führungskräfte gaben hier und da durchaus Fehleinschätzungen zu, nach dem Motto: Heute würde ich anders handeln. „Wenn ich irgendwas übersehen habe, dann tut es mir leid“, sagte etwa ein angeklagter Ex-Manager. Einen bewussten Vorsatz oder eine wesentliche Motivation für das „Bescheißen“, das die Staatsanwaltschaft bei ihren Recherchen an Äußerungen eines hohen Vorgesetzten festgemacht hatte, stritten sie jedoch ab - und verwiesen mehr als einmal auf die Rolle des obersten Konzernlenkers.
Das Problem: Solange Winterkorn dank eines medizinischen Attests wegen Hüft-OP mit anschließender Reha nicht persönlich dabei ist, dürfte es für die Wirtschaftsstrafkammer schwierig sein, das Dickicht der teils widersprüchlichen Darstellungen zu lichten. Bislang lässt sich seine mutmaßliche Mitverantwortung nur nach Aktenlage bewerten. Auch der Einstieg in die Beweisaufnahme und ersten Zeugenvernehmungen geht jetzt wohl ohne den einstigen „Mr. Volkswagen“ vonstatten.
Beschleunigung contra Verzögerung
Nicht nur unter Kritikern des Autokonzerns, sondern ebenso unter den Prozessbeteiligten ist das höchst umstritten. Der Vorsitzende Richter Christian Schütz hatte den Teil gegen Winterkorn von der Eröffnung gegen die anderen Vier abgetrennt - mit der Begründung, so lasse sich das Gesamtverfahren nach der langen Vorbereitungszeit beschleunigen und verdichten. Erst wenn der Gesundheitszustand des 74-jährigen früheren Vorstandsvorsitzenden es zulasse, solle dieser dazu stoßen.
Verteidiger der übrigen Angeklagten wollten das nicht hinnehmen. Ohnehin seien Ermittlungsstränge noch gar nicht zu Ende geführt, argumentierten sie - gleichzeitig drehe sich die Anklage in hohem Maße um das Tun oder Unterlassen Winterkorns. Die Erklärungen ihrer Mandanten würden davon überschattet: Es drohe die Gefahr einer Vorverurteilung auch für das, wofür primär der einst bestbezahlte Dax-Manager zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Einen Antrag, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) hierzu auszusetzen, lehnten Schütz und seine Richterkollegen ab.
Verhandlungsfähig oder nicht?
Auch die Staatsanwaltschaft war nicht begeistert vom Vorgehen des Vorsitzenden, wenngleich aus anderen Gründen. Sie will Winterkorn so schnell wie möglich im Gerichtssaal sitzen sehen und persönlich zur Anklage Stellung nehmen hören. Und überhaupt: Reicht ein Hüftleiden - so unangenehm dieses sein mag - aus, um die Verhandlungsfähigkeit gänzlich zu bezweifeln? Ein Amtsarzt müsse eingeschaltet werden, ist aus Ermittlerkreisen zu hören. Hinter vorgehaltener Hand fragt sich manch einer schon, ob Winterkorn überhaupt jemals erscheinen wird.
Formal ist die Sache klar, seitdem das OLG als höhere Instanz auch eine Beschwerde der Staatsanwälte gegen die Abspaltung abschmetterte: Schütz' Beschluss sei mit Blick auf das angestrebte Verfahrenstempo gegen die Vier einwandfrei. Eine Klatsche für die Ankläger. Ab wann Winterkorn einbezogen wird, bleibt so allerdings erst recht offen.
Führungskräfte und „Antriebsfritzen“
Derweil haben die ersten Termine in der Braunschweiger Stadthalle - nur hier war mit ausreichend Platz für den Prozessmarathon gerechnet worden - die Fronten aufgezeigt. Laut Anklageschrift sollen die Männer tief in die Entwicklung und den Einsatz der Betrugssoftware verstrickt gewesen sein. „Lasst Euch nicht erwischen“, habe ein VW-Manager schon 2006 zu einem mitangeklagten Ingenieur gesagt. Am Donnerstag schilderte einer der Ex-Cheftechniker, dass Probleme bereits zu Beginn des Dieselprojekts „US 07“ aufgetaucht seien. Aber: „Ein Scheitern an der Stelle war nicht erlaubt.“ Über den Einbau einer Umschaltfunktion habe er indes nie mit Vorgesetzten gesprochen.
In einer Krisenrunde 2012 soll der Satz gefallen sein: „Wenn wir schon bescheißen, dann machen wir es richtig.“ Hintergrund war aus Sicht der Strafverfolger, dass der Manipulations-Code zusätzlich zur Erkennung von Abgastests auch mit einer Erkennung des Lenkwinkels „verfeinert“ wurde. „Ihr Antriebsfritzen, was habt ihr schon wieder angestellt?“, soll Winterkorn dann 2015 gesagt haben, als der Kreis der Mitwisser und Druck der US-Behörden laut Anklage gewachsen war.
„Sich der Verantwortung zu stellen, sieht anders aus“
Die Verteidigung stellte bald nach dem Prozessauftakt den abwesenden Ex-Vorstandschef ebenfalls in den Mittelpunkt. „Die Botschaft, hier zu sitzen ohne Herrn Winterkorn, ist eine Katastrophe“, schimpfte ein Anwalt. „Sich der Verantwortung für das eigene Handeln zu stellen, sieht anders aus“, kommentierte ein Kollege die Verfahrensabtrennung.
Die ersten Tage ließen aber auch unter den Vieren, die schon zugegen sind, eine Konstellation erscheinen, in der oft Aussage gegen Aussage steht. Die Ingenieure, die die illegale Abschalteinrichtung („defeat device“) vorgeschlagen haben sollen, sagen sinngemäß: Wir äußerten Bedenken und warnten vor Konsequenzen. Die Vorgesetzten entgegnen: Es wurde über Probleme gesprochen, nie aber über ungesetzliches Handeln.
Später alles auf Anfang?
Der Eindruck, Techniker hätten über Nacht beschlossen, Kunden zu betrügen, sei falsch, so ein früherer Leiter der Antriebselektronik. Ein Manager konterte, ihm sei die Software nie gesondert und explizit vorgestellt worden. „Wenn ich etwas klar verstehe, dann positioniere ich mich auch dazu“, erklärte der ehemalige Chef der VW-Aggregateentwicklung. Auf Manager-Seite war zudem die Rede von „wahrheitswidrigen Angaben“ der Ingenieure „zur eigenen Entlastung“.
Alle vier Angeklagten reagierten mit teils mehrstündigen Statements auf die Vorwürfe. Ohne größere Unterbrechungen konnten sie dem Gericht ihre Sicht auf die Abgasaffäre schildern. Mal trugen sie die Einlassungen emotional, mal nüchtern vor. Drei der Männer berichteten in eher knapper Form, einer sprach ausufernd über technische Details.
Inhaltlich spannender dürfte es im weiteren Verlauf werden, wenn die Kammer ihre eigenen Fragen an die Angeklagten richtet. Und vor allem, sobald Winterkorn teilnimmt. Wäre er auf Druck der Staatsanwaltschaft schon dazu geholt worden, wäre es wohl ganz von vorn losgegangen. Doch auch so dürfte für die Einordnung seiner Rolle ab der ersten Winterkorn-Sitzung gelten: nicht alles, aber vieles auf Anfang.
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