Istanbul (dpa)
Treffen unter Freunden? Merkels Abschiedsbesuch bei Erdogan
Inhaftierte Deutsche, Flüchtlingskrise und Nazi-Vergleiche - die Beziehungen zur Türkei waren nicht immer einfach. In Istanbul betont die Bundeskanzlerin dennoch Gemeinsamkeiten.
Trotz aller Differenzen hoffen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auch unter einer neuen Bundesregierung auf eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern.
Merkel sprach sich am Samstag bei ihrem Abschiedsbesuch als Regierungschefin in Istanbul zudem für eine Fortsetzung des Flüchtlingsabkommens mit der EU aus, das sie vor rund fünf Jahren mit ausgehandelt hatte. Es sei wichtig, dass die EU die Türkei weiter „bei der Bekämpfung der illegalen Migration“ unterstütze und diese auch in Zukunft gewährleistet werde, sagte Merkel.
„Wir merken, dass wir geostrategisch voneinander abhängen, ob wir gleich agieren oder nicht“, sagte sie. Sie rate und denke, dass auch eine zukünftige Bundesregierung die Beziehungen zur Türkei in ihrer gesamten Komplexität erkenne. Man müsse miteinander reden, betonte sie und dann auch Kritik etwa bei Menschenrechtsfragen anbringen.
Erdogan würdigte die „Freundin“ und „teure Kanzlerin“ als erfahrene Politikerin, die immer einen „vernünftigen und lösungsorientierten Ansatz“ gepflegt habe. Er hoffe, die gute Zusammenarbeit auch mit einer neuen Regierung fortführen zu können.
Scherze und Gelassenheit
Es ist nach 16 Jahren der zwölfte Türkei-Besuch Merkels als Kanzlerin und voraussichtlich das letzte Treffen in der Funktion mit Erdogan. Die gleichaltrigen Staatschefs (beide Jahrgang 1954) kennen sich gut. Erdogan leitet seit 2003 die Geschicke der türkischen Politik. Zuerst war er Ministerpräsident - ein Amt das er inzwischen abgeschafft hat - später Staatspräsident. Merkel wurde 2005 Kanzlerin.
Die Stimmung schien am Samstag gelassen. Erdogan machte Scherze darüber, dass sich Merkel manchmal bei ihm über ihre Regierungskoalition beschwert habe und betonte den Vorteil des türkischen Präsidialsystems. Merkel stellte daraufhin klar, dass sie nichts gegen Koalitionen habe und merkte an: „Wir haben keine Absicht, ein Präsidialsystem einzuführen und trotzdem wollen wir gute Beziehungen mit der Türkei.“
Vergessen schienen Episoden der deutsch-türkischen Beziehungen, wie etwa im Jahr 2017 als Erdogan auch Merkel persönlich mit Nazi-Vergleichen attackierte. Damals war das Verhältnis unter anderem wegen der Inhaftierung von Deutschen, wie dem Journalisten Deniz Yücel, auf einem Tiefpunkt. Die gute Stimmung in Istanbul konnte aber nicht über die vielen Streitpunkte hinwegtäuschen, mit denen sich auch die zukünftige Bundesregierung auseinandersetzen muss.
Die Strafverfolgung von deutschen Staatsbürgern und türkischen Oppositionellen ist noch nicht vom Tisch. Erst am Dienstag wurde ein kurdischstämmiger Deutscher in der Türkei zu mehr als zwei Jahren Haft wegen Terrorpropaganda verurteilt. Der Kulturförderer Osman Kavala und der prominente Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas sind seit Jahren inhaftiert, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deren Freilassung angeordnet hat.
Kritik an Menschenrechtssituation
Merkel erklärte, sie habe mit Erdogan über das Thema Inhaftierungen gesprochen und sagte: „Ich bin kritisch über Entwicklungen, die sich im Bereich der Menschenrechte ergeben haben und vielleicht auch im Bereich der individuellen Freiheiten.“ Erdogan wiederum verwies auf die Unabhängigkeit der Justiz.
Merkel begrüßte, dass die Türkei das Pariser Klimabkommen ratifiziert hat und würdigte die Arbeit der Türkei beim Thema Flüchtlinge. Das Land leiste „Außergewöhnliches“, sagte Merkel. Die Türkei hat rund 3,7 Millionen Geflüchtete aus Syrien sowie Hunderttausende Migranten aus anderen Ländern, etwa aus Afghanistan aufgenommen.
Die Kanzlerin ist Mitarchitektin des sogenannten Flüchtlingspakts zwischen Türkei und EU. Dieser sieht vor, dass die Türkei gegen unerlaubte Migration in die EU vorgeht und Griechenland illegal auf die Ägäis-Inseln gelangte Migranten zurück in die Türkei schicken kann. Im Gegenzug übernimmt die EU für jeden zurückgeschickten Syrer einen syrischen Geflüchteten aus der Türkei und unterstützt das Land finanziell bei der Versorgung der Flüchtlinge. Die EU hat der Türkei weitere drei Milliarden Euro in Aussicht gestellt.
Beim Thema Migration spielt Ankara daher eine wichtige Rolle für Deutschland und die EU. Kritiker sind aber der Meinung, dass sich Europa dadurch erpressbar gemacht hat. Erdogan hat in den letzten Wochen immer wieder deutlich gemacht, dass sein Land keine Geflüchtete mehr aufnehmen werde. Er schottet sein Land weiter ab und lässt etwa an der Grenze zum Iran eine Mauer bauen. Am Samstag betonte er aber, man sei weiterhin „Gastgeber“ für Flüchtlinge „und das wird auch so bleiben.“
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