Nürnberg/Passau (dpa)
ICE-Messerattacke - Ermittlungen können Wochen dauern
Der erste Schock ist verflogen, jetzt müssen die Ermittler genau recherchieren: Warum hat der Mann im ICE zugestochen? Das könnte nach Einschätzung eines Gutachters von großer Bedeutung sein.
Erste Erkenntnisse zum Messerangriff im ICE Passau-Hamburg liegen vor, der mutmaßliche Täter ist in einer psychiatrischen Klinik untergebracht - die Ermittlungen zu den genauen Hintergründen der Tat können aber noch Wochen oder Monate dauern.
„Was jetzt passiert: gründliche Polizei- und Ermittlungsarbeit“, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am Montag.
Man müsse nun die Durchsuchungen und Vernehmungen nach der Tat weiter auswerten. „Das war ja beachtlich, was innerhalb von 24 Stunden zusammengekommen ist“, sagte sie. Die Ermittler hatten Wohnungen in Passau, in Marl in Nordrhein-Westfalen und im Thüringer Unstrut-Hainich-Kreis durchsucht. In Marl ging es um das familiäre Umfeld, in Thüringen um den näheren Freundeskreis.
In Passau wurden drei Wohnungen durchsucht: die des Beschuldigten und von zwei Freunden. In der Wohnung des Mannes seien ein Handy sowie Unterlagen in Papier- und elektronischer Form sichergestellt worden, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Die Ermittler haben nach wie vor keine Hinweise darauf, dass der 27-jährige Syrer Mitwisser, Mithelfer oder Mittäter hatte. Auch für einen terroristischen oder islamistischen Hintergrund haben sie bislang keine Anhaltspunkte.
Der mutmaßliche Täter wohnte demnach in einem Studierendenwohnheim. Er ist aber kein Student. Die Ermittler machten zunächst keine Angaben dazu, warum er dennoch in dem Wohnheim lebte. Am Tag vor der Tat hatte er seinen Arbeitsplatz verloren. Wo er gearbeitet hatte und warum er die Stelle verlor, sagten die Ermittler nicht.
Der Mann soll am Samstagvormittag in dem ICE unvermittelt auf vier Männer im Alter zwischen 26 und 60 Jahren eingestochen haben. Zwei von ihnen waren auch am Montag noch im Krankenhaus.
Die Ermittlungen dienten auch dazu, „Anknüpfungstatsachen“ für den Gutachter zu schaffen, mit denen dieser sich ein abschließendes Bild über den psychischen Zustand des 27-Jährigen machen könne, sagte die Sprecherin. In einer vorläufigen Einschätzung war er zu dem Schluss gekommen, dass der Mann unter einer „paranoiden Schizophrenie“ leidet, er wahnhafte Vorstellungen hat und seine Schuldfähigkeit zur Tatzeit aufgehoben war. Erkenntnisse dazu, dass er wegen psychischen Probleme in Behandlung gewesen war, gibt es aber nicht.
Der Mann hatte dem Gutachter gesagt, er fühle sich seit einiger Zeit von der Polizei verfolgt - was laut den Ermittlern keinerlei realen Hintergrund hat. Laut Polizeiangaben vom Sonntag gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er die Tat geplant oder vorbereitet hatte. Nach seiner Festnahme soll er aber gesagt haben, er habe das Messer schon länger bei sich getragen, da er sich verfolgt gefühlt habe.
Bliebe es bei der ersten Einschätzung des Gutachters zur Schuldunfähigkeit, könnte keine Anklage erhoben werden - denn dazu braucht es einen schuldfähigen Beschuldigten. Stattdessen könnte es dann - wie voraussichtlich im Fall des Messerangreifers von Würzburg - ein sogenanntes Sicherungsverfahren geben. Bei solchen Verfahren geht es um die dauerhafte Unterbringung eines Beschuldigten in einer Psychiatrie. Die Staatsanwaltschaft schreibt dafür auch keine Anklage wie in normalen Strafverfahren, sondern eine Antragsschrift. Die Ermittler hatten aber bereits am Sonntag betont, neben dem möglichen psychischen Motiv auch weitere Motivlagen eng im Fokus zu behalten.
Der Verteidiger des mutmaßlichen ICE-Messerangreifers hält eine genaue psychiatrische Diagnostik in dem Verfahren gegen seinen Mandanten ebenfalls für wichtig. „Es soll eben genau nicht der Eindruck entstehen - auch nicht im Sinne der Verteidigung -, dass leichtfertig von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen wird“, sagte der Nürnberger Rechtsanwalt Maximilian Bär am Montag.
© dpa-infocom, dpa:211108-99-907530/7