Berlin (dpa)
„Zeit zum Handeln“ - Neue Auflagen gegen vierte Corona-Welle
Die Infektionszahlen steigen wieder gewaltig, vor allem auf Ungeimpfte kommen jetzt neue Regeln zu. Aber reicht das, um das Schlimmste zu verhindern?
Angesichts der immer bedrohlicheren Corona-Welle mit Rekord-Infektionszahlen kommen neue Alltagsauflagen auf Millionen Bürger zu.
Weitreichende praktische Folgen könnten die Beschlüsse von Bundestag, Bundesländern und Bundesregierung für Ungeimpfte haben. So sollen dort, wo eine bestimmte Anzahl an Corona-Patienten ins Krankenhaus eingewiesen wird, nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt zu Freizeitveranstaltungen, Gastronomie und Hotels haben (2G). Einige Bundesländer haben solche Regeln bereits.
Der Bundestag beschloss außerdem Pläne von SPD, FDP und Grünen, die 3G-Vorgaben am Arbeitsplatz, in Bussen und Bahnen vorsehen: also Impfung, Genesung oder Test. Am Donnerstagabend zeichnete sich dann auch eine Zustimmung des Bundesrats am Freitag ab: Trotz Vorbehalten kündigten mehrere unionsgeführte Länder ein Ja an. Die Bundesländer baten den Bund zudem, in bestimmten Einrichtungen wie Krankenhäusern und Pflegeheimen eine Impfpflicht für alle einzuführen, die Kontakt zu besonders gefährdeten Personen haben.
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte gestern im ZDF-„heute journal“ auf die Frage, ob die unionsregierten Länder das Gesetz den Bundesrat passieren lassen werden: „Weil wir darin auch verabredet haben, die uns nach wie vor fehlenden Maßnahmen genau zu evaluieren, das Maßnahmenpaket genau anzuschauen bis spätestens Mitte Dezember, werden wir am morgigen Tag im Bundesrat zustimmen können.“ Nach dieser Zusage einer Evaluation dürfe man nicht aus parteipolitischen Grünen blockieren. Wüst ist auch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz.
Virus in den Griff bekommen
„Es ist wirklich absolute Zeit zum Handeln“, mahnte die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eindringlich. Sie sprach von einer dramatischen und „wirklich besorgniserregenden“ Infektionssituation. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz kündigte für den Winter „einschneidende Maßnahmen“ an. Es gelte nun, als Land zusammenzuhalten. Bisher Nicht-Geimpfte sollten sich „einen Ruck“ geben und sich impfen lassen. Merkel betonte: „Wir wissen, und das ist bedauerlich, wir könnten besser dastehen, wenn die Impflücke nicht so groß wäre.“
Um die Ausbreitung des Virus in den Griff zu kriegen, legten Bund und Länder neue Grenzwerte für Beschränkungen fest. Ausschlaggebend ist künftig die Hospitalisierungsrate. Der Wert gibt an, wie viele Corona-Infizierte pro 100.000 Menschen in den vergangenen sieben Tagen ins Krankenhaus kamen.
Liegt die Rate über drei, soll in dem Bundesland für Freizeiteinrichtungen, Kultur- und Sportveranstaltungen, Gastronomie und bestimmte Dienstleistungen flächendeckend 2G gelten. Zutritt haben dann nur Geimpfte und Genesene. Steigt die Krankenhaus-Rate auf mehr als sechs, sollen Geimpfte und Genesene in bestimmten Einrichtungen wie Diskotheken, Clubs und Bars zusätzlich einen Test vorlegen (2G plus).
Derzeit liegt die „Hospitalisierungs-Inzidenz“ in 12 der 16 Bundesländer über drei, lediglich Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und das Saarland wären also nicht betroffen. In drei Ländern liegt der Wert über sechs: in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Bayern.
Spitzt sich die Lage noch mehr zu, sollen die Länder laut Merkel auch wieder Kontaktbeschränkungen einführen. Dabei reiche der vom Bundestag beschlossene Maßnahmenkatalog ihrer Meinung nach nicht aus, sagte Merkel.
Am Vormittag hatte der Bundestag von SPD, Grünen und FDP vorgelegte Neuregelungen beschlossen, die diesen Katalog umfassen und unter anderem 3G-Vorgaben am Arbeitsplatz, in Bussen und Bahnen bringen sollen. Hier sind dann Nachweise über Impfung, Genesung oder negativen Test nötig. Für Pflegeheime und Kliniken sollen Testpflichten für Beschäftigte und Besucher verankert werden. Auf der anderen Seite aber sollen etwa Schul- oder Geschäftsschließungen künftig nicht mehr möglich sind.
Damit sie in Kraft treten können, muss der Bundesrat diesen Regeln am Freitag noch zustimmen. Die Union hatte gedroht, das zu blockieren - nach der Bund-Länder-Runde kündigten aber NRW, Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen eine Zustimmung an. Allein schon ihre Stimmen reichen rechnerisch, um das Gesetz zu beschließen.
Die Union hält es für einen Fehler, die „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ als Rechtsgrundlage für Corona-Auflagen auslaufen zu lassen. Dieser Ausnahmezustand gibt den Landesregierungen bisher die Möglichkeit, auf einfachem Verordnungsweg weitreichende Schritte zu ergreifen. Nach dem Willen der Ampel-Fraktionen sollen künftig die Landesparlamente über Beschränkungen im Freizeit-, Kultur- oder Sportbereich entscheiden - Ausgangsbeschränkungen, pauschale Geschäfts- oder Schulschließungen sowie Reiseverbote sollen aber ausgenommen sein. Falls Länder jetzt noch solche Maßnahmen anordnen, könnten sie bis 15. Dezember in Kraft bleiben.
Auffrischungsimpfungen und Impfpflicht
Dringendes Thema von Bund und Ländern war auch, bei den Impfungen Tempo zu machen. Die Länder forderten eine Impfpflicht „einrichtungsbezogen“ für Mitarbeiter in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, die Kontakt zu besonders gefährdeten Personen haben. Die Länder baten den Bund, die Impfpflicht „schnellstmöglich umzusetzen“. Merkel kündigte an, der Bund werde „in Kürze“ entscheiden, wie er sich dazu verhalte.
Als akutes Instrument zum Eindämmen der Corona-Welle gelten Auffrischungen länger zurückliegender Impfungen. Merkel sagte, bis Jahresende seien 27 Millionen nötig. „Bund und Länder verpflichten sich, jedem ein Angebot zu machen“, betonte sie. Dafür sollen neben den Praxen mehr öffentliche Angebote eingerichtet werden. Bisher haben 4,8 Millionen Menschen Auffrischungen bekommen.
Die Impfkommission weitete nach wochenlanger Diskussion ihre bisher eng gefasste Empfehlung massiv aus. Ab sofort empfehle sie „allen Personen ab 18 Jahren die Covid-19-Auffrischimpfung“, teilte die Stiko mit. Auch ein flexiblerer Umgang mit dem Zeitabstand ist vorgesehen: In der Regel soll sechs Monate nach der letzten Dosis nachgeimpft werden - eine Verkürzung auf fünf Monate sei im Einzelfall und bei genug Kapazitäten aber zu erwägen.
Experten warnen bereits seit Wochen, dass sich die Corona-Ausbreitung rasant beschleunigt. „Wir laufen momentan in eine ernste Notlage. Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern“, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, am Mittwochabend. Bundesweit überschritten die an einem Tag gemeldeten Neuinfektionen laut RKI erstmals die Marke von 65.000. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen stieg auf den Höchststand von 336,9.
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