Berlin (dpa)

Ampel-Parteien stellen Koalitionsvertrag vor

Carsten Hoffmann, Theresa Münch und Martina Herzog, dpa
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Von Carsten Hoffmann, Theresa Münch und Martina Herzog, dpa
| 24.11.2021 09:17 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Nach der Vorstellung des Koalitionsvertrages verlassen Olaf Scholz, Robert Habeck, Christian Lindner, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans das Podium. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Nach der Vorstellung des Koalitionsvertrages verlassen Olaf Scholz, Robert Habeck, Christian Lindner, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans das Podium. Foto: Kay Nietfeld/dpa
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Die Grundlagen des deutschen Wohlstands erneuern und gleichzeitig einen entscheidenden Beitrag zur Rettung der Welt vor einer Klimakatastrophen leisten: Die Ampel-Parteien haben die Latte hoch gelegt.

In einem Industriehafen im Westen Berlins macht Deutschland sich im trüben November auf in die politische Zukunft. „Die Ampel steht“, sagt Olaf Scholz, siegreicher Kanzlerkandidat der SPD und nun schon beinahe im Amt.

Falls der Ort für die Vorstellung des Koalitionsvertrages bewusst gewählt ist, ist Transformation das passende Stichwort. Malocher-Charme aus Stahl und Ziegelwänden außen, innen die Coolness zum Tagungszentrum umgewandelter Industriearchitektur.

„Mehr Fortschritt wagen“, ist das Motto hinter der Bühne, auf der Scholz und FDP-Chef Christian Lindner, die Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock sowie die SPD-Spitzen Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken ihr „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ vorstellen.

Der Ton ist keinesfalls euphorisch, sondern staatstragend-zuversichtlich - alles Andere erzeugt inmitten der vierten Corona-Welle schnell einen schiefen Klang. Stolz ist spürbar über die Diskretion der überstandenen Verhandlungen. Diese habe man ja gelegentlich von Ferne beobachten können, sagt Scholz zu den anwesenden Journalisten - „wofür ich mich nicht entschuldigen möchte“. Die neuen Partner sparen nicht mit Lob füreinander. Lindner und Habeck punkten als rhetorische Könner, Scholz wirkt im Vergleich ungelenk.

Habeck schlägt den üblichen ganz großen Bogen und preist den Koalitionsvertrag als Licht, das den Bürgerinnen und Bürgern im Pandemiedunkel leuchten soll. „In einer Zeit, wo so viel Sorge, Angst und Verunsicherung da ist, ist es wichtig, dass wenigstens ab und zu ein Zeichen, ein Dokument in diesem Fall, des Mutes und der Zuversicht gegeben wird. Und ein solches legen wir Ihnen hiermit heute vor.“

Allzu mühelos dürfen die überstandenen Verhandlungen allerdings auch nicht erscheinen - schließlich haben die Parteien ihren Anhängern noch schmerzhafte Kompromisse zu verkaufen. Bei den Grünen müssen die Mitglieder zustimmen, bei SPD und FDP Parteitage.

Habeck: „Es war manchmal ganz schön anstrengend“

„Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Christian, Olaf, Annalena, Saskia und Norbert, es war manchmal ganz schön anstrengend“, sagt Habeck an die anwesenden Ampel-Spitzen gewandt. „Wir haben uns ganz schön viel zugemutet.“ Lindner formuliert es so: „Die Gespräche waren genauso kontrovers wie sie diskret waren. Um einzelne Sätze haben wir teilweise Stunden gerungen.“ Aber das Ergebnis lohne die Mühen, betonen sie alle.

„Uns eint der Glaube an den Fortschritt und daran, dass Politik etwas Gutes bewirken kann“, sagt Scholz. Das gebe es nicht zum Nulltarif. „Wir werden massiv investieren, um Deutschland in der Weltspitze zu halten.“

Aber erst erklärt der wohl künftige Kanzler den Kurs der Ampel in der Corona-Krise und stellt harte Maßnahmen in Aussicht. Im Raum steht der Vorwurf, SPD, Grüne und FDP hätten mit dem neuen Infektionsschutzgesetz das schwere Gerät aus dem Werkzeugkasten der staatlichen Maßnahmen entfernt. Das will keiner auf dieser Bühne gelten lassen. Scholz sagt, es werde alles Erforderliche getan, um Deutschland durch diese Krise zu bringen.

Die Ampel-Parteien haben sich viel vorgenommen, etwa beim Klima. Auffällig, wie Lindner den grünen Partnern, die immerhin eine „Klima-Regierung“ versprochen haben, hier zur Seite springt und versichert: „Keine Industrienation wird größere Anstrengungen unternehmen beim Schutz des Klimas.“ Grenzen setze allein das technisch und physikalisch Mögliche - was politisch und finanziell machbar sei, halte der Koalitionsvertrag fest.

Ziel: bis 2045 klimaneutral

Ziel ist es, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen - also dafür zu sorgen, dass das Land bis dahin nur noch so viele klimaschädliche Gase ausstößt, wie wieder gebunden werden können. In einem Klima-Check soll jedes Ministerium seine Gesetzentwürfe auf die Einhaltung der Klimaziele prüfen. Außerdem wollen die Ampel-Parteien schon 2022 ein Klima-Sofortprogramm verabschieden. Herzstück ist der deutlich beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien.

Beim Sozialen ist der Anspruch des Aufbruchs deutlich: Den Sozialstaat will die Ampel digitaler, bürgerfreundlicher, einfacher machen. Im Jobcenter soll ein Vertrauensverhältnis zu den Arbeitslosen herrschen. Arbeitslosengeld II oder gar Hartz IV sollen als Begriffe der Vergangenheit angehören - beim an seine Stelle tretenden Bürgergeld sollen Vermögensprüfungen wegfallen.

Wie das alles finanziert werden soll, bleibt allerdings etwas vage: Keine neuen Staatsschulden, keine höheren Steuern, dafür etwas sparen bei Subventionen. Dazu ein paar Tricks wie staatliche Gesellschaften, die auch mit Schuldenbremse Kredite aufnehmen dürfen. Klar sei, dass auch die Privatwirtschaft viel Geld locker machen müsse, sagt Scholz - und schlüpft wohl ein letztes Mal in die Rolle des Finanzministers, weil seine Kollegen auf dem Podium zu Finanzierungsfragen kaum sprechen wollen.

Dabei ist Lindner als Finanzminister eigentlich gesetzt. Der FDP, die sich Freiheit und die Modernisierung des Staates auf die Fahnen geschrieben hat, hat die Corona-Krise zu einer lange ungekannten Stärke verholfen. Sie bekommt neben dem Ministerium für Justiz und Digitalisierung auch Bildung und Forschung und - wohl zum Leidwesen der Grünen - das wichtige Verkehrsressort.

Lindner setzt damit ziemlich genau seine Wunschliste um - und vermeidet heiße Eisen, wie das Gesundheitsministerium oder das Verteidigungsministerium, die bei der SPD landen.

© dpa-infocom, dpa:211124-99-121442/36

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