Wien (dpa)
Österreich mit neuem Kanzler - Ein Befreiungsschlag?
Der Rückzug von Ex-Kanzler Sebastian Kurz lässt in der ÖVP keinen Stein auf dem anderen. Die Regierung wird umgebildet. Ein neuer Kanzler soll die wacklige Koalition mit den Grünen retten.
Mit einem großen personellen Neustart will die konservative ÖVP die Ära nach dem Rückzug von Ex-Kanzler Sebastian Kurz einleiten. Der bisherige Innenminister Karl Nehammer wurde vom Parteivorstand einstimmig zum neuen Chef der Konservativen und zum neuen Kanzler designiert.
Der 49-Jährige folgt Alexander Schallenberg nach, der nach nur knapp zwei Monate im Amt seinen Posten zur Verfügung gestellt hatte. Auslöser der Personalrochade war der Rückzug von Ex-Kanzler Sebastian Kurz von allen Parteiämtern und der Politik generell.
Personalrochade
Die ÖVP tauscht zugleich mehrere Mitglieder ihres Regierungsteams aus. Nachfolger von Finanzminister Gernot Blümel wird der bisherige Staatssekretär im Umweltministerium Magnus Brunner. Für den aus Deutschland stammenden Bildungsminister Heinz Faßmann kommt der Universitätsrektor Martin Polaschek. Schallenberg wechselt zurück auf den Posten des Außenministers. Neuer Innenminister wird der ÖVP-Politiker Gerhard Karner aus Niederösterreich.
Nehammer ist ehemaliger Berufssoldat im Rang eines Leutnants und langjähriger Parteifunktionär. Er steht unter anderem für eine harte Haltung gegen illegale Migration und gegen radikale islamistische Strömungen. Eines seiner Hauptprojekte als Innenminister war der Umbau des Verfassungsschutzes, der in den vergangenen Jahren mehrfach in die Kritik geraten war und auch im Vorfeld des Terroranschlags vom 2. November 2020 Mängel offenbarte.
Zu den zentralen Grundwerten seiner Politik würden Verantwortung, Solidarität und Freiheit zählen, sagte Nehammer in einer ersten Stellungnahme. „Füreinander da sein, füreinander einstehen, aufeinander aufpassen“, das gelte gerade in der Corona-Pandemie. Nehammer hatte als Chef der Polizei die Kontrollen zur Einhaltung der Corona-Vorschriften forciert.
Zusammenarbeit mit Grünen
Der 49-Jährige gehörte nach Einschätzung von Experten zwar zum erweiterten, aber nicht zum allerengsten Vertrautenkreis von Kurz. „Er verfügt im Gegensatz zu Kurz auch über intakte Verbindungen zu den Sozialdemokraten“, sagte der Politik-Berater Thomas Hofer. Auch das Verhältnis zum grünen Koalitionspartner sei trotz einiger Reibereien tragfähig, meinte Hofer. Die Grünen gehen nach den Worten von Vizekanzler Werner Kogler von einer funktionierenden Zusammenarbeit aus. „Wir müssen rasch an die Sache, rasch zu arbeiten beginnen“, sagte Kogler.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen muss Nehammer formell noch als Kanzler vereidigen. Seine Rolle als Parteichef muss noch von einem Parteitag bestätigt werden.
Rufe nach baldigen Neuwahlen
Die Umwälzungen in der ÖVP verdüstern nach Ansicht von Hofer die Aussichten der Partei auf künftige große Wahlsiege. „Die ÖVP hat keinen zweiten Sebastian Kurz im Angebot und muss nun kleinere Brötchen backen.“ Angesichts der Entwicklung sind in Teilen der Opposition Rufe nach baldigen Neuwahlen laut geworden. Die aktuelle Regierung werde nicht für stabile und erfolgreiche Sachpolitik sorgen, sagte die Chefin der liberalen Neos, Beate Meinl-Reisinger. Spätestens nach der Überwindung der Corona-Welle sei die Zeit gekommen, die Wähler zu befragen. Die immer wieder von Konflikten überschattete Koalition von ÖVP und Grünen regiert seit Anfang 2020.
Medien sehen Nehammmer vor einer sehr großen Aufgabe. „Noch nie ist ein Regierungschef unter so ungünstigen Auspizien angetreten wie Karl Nehammer. Noch nie war das politische Klima so vergiftet. Noch nie war die Gesellschaft so gespalten. (...) Noch selten war eine Regierung so fragil wie die von ÖVP und Grünen“, schrieben die „Salzburger Nachrichten“.
Mit der Regierungsumbildung zieht die ÖVP einen weitgehenden Schlussstrich unter die Ära von Kurz. Zwei seiner Vertrauten, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger, bleiben allerdings im Amt.
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