Washington (dpa)

Kapitol-Jahrestag: Biden macht Trump verantwortlich

Can Merey und Christiane Jacke, dpa
|
Von Can Merey und Christiane Jacke, dpa
| 06.01.2022 04:43 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Politiker suchen Schutz in der Galerie des Repräsentantenhauses, als Randalierer versuchen, während Trump-Anhänger in das Parlament eindringen. Foto: Andrew Harnik/AP/dpa
Politiker suchen Schutz in der Galerie des Repräsentantenhauses, als Randalierer versuchen, während Trump-Anhänger in das Parlament eindringen. Foto: Andrew Harnik/AP/dpa
Artikel teilen:

So scharf hat US-Präsident Biden seinen Vorgänger noch nie attackiert: Er bezichtigt Trump am Jahrestag des Sturms aufs Kapitol der Lüge. Die Retourkutsche lässt nicht lange auf sich warten.

US-Präsident Joe Biden hat seinen Vorgänger Donald Trump in einem ungewöhnlichen Schritt scharf angegriffen und für die Erstürmung des Kapitols vor einem Jahr verantwortlich gemacht.

„Zum ersten Mal in unserer Geschichte hat ein Präsident nicht nur eine Wahl verloren, sondern versucht, die friedliche Machtübergabe zu verhindern“, sagte Biden am Donnerstag im Kapitol in seiner Ansprache zum Jahrestag. „An diesem Gedenktag müssen wir dafür sorgen, dass ein solcher Angriff nie wieder geschieht.“ Trumps Namen nannte Biden in seiner 25-minütigen Rede kein einziges Mal. Der US-Demokrat sprach stattdessen wiederholt von „dem früheren Präsidenten“.

Attacke aufs Herz der Demokratie

Anhänger Trumps hatten am 6. Januar 2021 das Gebäude des US-Parlaments in Washington erstürmt, um zu verhindern, dass Bidens Wahlsieg vom November 2020 bestätigt wird. Dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Die Attacke aufs Herz der US-Demokratie erschütterte das Land. Trump hatte seine Anhänger in einer Ansprache angestachelt. Er erkennt seine Niederlage auch fast ein Jahr nach dem Machtwechsel nicht an und behauptet, durch Betrug um den Sieg gebracht worden zu sein. Beweise hat er nicht. Dutzende Klagen scheiterten vor Gericht.

Nur Minuten nach dem Ende von Bidens Ansprache holte Trump zum Gegenschlag aus. In einer von seiner Sprecherin Liz Harrington verbreiteten Mitteilung warf er seinem Nachfolger vor, mit seiner Politik die Vereinigten Staaten zu zerstören. Mit seinen Beschuldigungen gegen ihn betreibe er einen „Versuch, das Land weiter zu spalten“. „Dieses politische Theater soll allein von der Tatsache ablenken, dass Biden völlig und total versagt hat.“

Vor Trumps Einzug ins Weiße Haus gehörte es zum guten Ton, dass Amtsinhaber ihre Vorgänger nicht offen kritisierten. Der Republikaner scherte sich um diese und viele andere Gepflogenheiten nicht. Biden kündigte an, wieder einen präsidialeren Stil zu pflegen. So deutlich und ausführlich wie jetzt griff er Trump seit der Amtsübernahme noch nie an.

Biden: „Netz an Lügen“

Biden kritisierte, sein Vorgänger habe den Angriff vor einem Jahr im Weißen Haus am Fernseher verfolgt „und nichts getan“. Trump habe „ein Netz an Lügen über die Wahl 2020“ gesponnen und stelle seine Interessen über die der USA. „Sein angeschlagenes Ego ist ihm wichtiger als unsere Demokratie oder unsere Verfassung. Er kann sich nicht damit abfinden, dass er verloren hat.“ Trump hat bislang offengelassen, ob er bei der Präsidentenwahl 2024 noch einmal kandidieren möchte.

Biden nannte Trumps Betrugsbehauptungen eine „Big Lie“ - eine „große Lüge“. Über seinen Vorgänger sagte er: „Er ist nicht nur ein früherer Präsident. Er ist ein besiegter früherer Präsident.“ Trump sei in einer freien und fairen Wahl unterlegen. „Ich habe diesen Kampf, der heute vor einem Jahr in dieses Kapitol gebracht wurde, nicht gesucht. Aber ich werde auch nicht vor ihm zurückschrecken“, sagte Biden. „Ich werde diese Nation verteidigen. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand der Demokratie einen Dolch an die Kehle legt.“

Schweigeminute und Gedenken

Beide Kammern des US-Kongresses erinnerten mit einer Schweigeminute an die gewaltsame Attacke. In der US-Hauptstadt Washington wurde bei diversen Veranstaltungen an den beispiellosen Gewaltausbruch erinnert. Bei einer Sitzung des Senats berichteten mehrere Senatoren von ihren persönlichen Erinnerungen an jenen Tag vor einem Jahr.

Das Gedenken warf allerdings ein Schlaglicht auf die Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern im Kongress. Bei diversen Gedenkveranstaltungen in Washington meldeten sich vor allem Demokraten zu Wort, während sich Republikaner auffallend mit öffentlichen Stellungnahmen und Auftritten zurückhielten.

Der republikanische Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, etwa veröffentlichte lediglich eine schriftliche Stellungnahme, in der er die Attacke einen „dunklen Tag“ für den Kongress und das Land nannte und die Angreifer von damals als „Kriminelle“ bezeichnete. Zugleich warf McConnell jedoch „einigen“ Demokraten vor, den Jahrestag für parteipolitische Zwecke auszunutzen. Andere Führungsfiguren der Republikanischen Partei schwiegen ganz.

Der prominente republikanische Senator Lindsey Graham - in Trumps Amtszeit ein enger Vertrauter des Präsidenten - schrieb auf Twitter, „ungeachtet der Ursache für den Angriff auf das Kapitol“ sei er schockiert, dass ein Mob den Kongresssitz habe stürmen können. Zugleich warf Graham den Demokraten vor, sie versuchten den Jahrestag zu nutzen, um für radikale Wahlrechtsänderungen zu werben. Bidens Rede zum Jahrestag wiederum habe vor allem dem Ziel gedient, seine gescheiterte Präsidentschaft wiederzubeleben, kritisierte Graham.

Mit einem eigenen Presseauftritt stachen allein die republikanischen Abgeordneten Matt Gaetz und Marjorie Taylor Greene heraus, die zu Trumps loyalsten Unterstützern zählen. Sie verbreiteten bei einer Pressekonferenz erneut rechte Verschwörungstheorien und äußerten den Verdacht, dass Behörden wie die Bundespolizei FBI beim Sturm auf das Kapitol involviert gewesen sein könnten.

Die Frage nach einem möglichen Motiv konnten sie nicht beantworten. „Ich traue unserer Regierung nicht“, betonte Greene. Gaetz sagte: „Marjorie und ich sind heute hier, weil wir nicht wollen, dass die Stimme der Republikaner ungehört bleibt, und weil wir nicht wollen, dass die heutige historische Erzählung von denen, die die wahren Aufrührer sind, gekapert und vereinnahmt wird.“

Harris: Vergleich mit Terroranschlägen

Vor Biden wandte sich Vizepräsidentin Kamala Harris vom Kapitol aus an die Nation - sie ist zugleich Präsidentin des Senats. Harris stellte die Erstürmung in eine Reihe großer Schicksalstage der USA in den vergangenen Jahrzehnten: dem japanischen Angriff auf die US-Pazifikflotte am 7. Dezember 1941, der zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte, und den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Solche Daten hätten „nicht nur einen Platz in unseren Kalendern, sondern auch in unserem kollektiven Gedächtnis“.

Washington stand am Donnerstag ganz im Zeichen des Jahrestags. Im Kapitol sitzt der Kongress, das US-Parlament aus Repräsentantenhaus und Senat. Beide Parlamentskammern erinnerten am Donnerstag mit einer Schweigeminute an den Angriff auf das Kapitol.

„Große Lüge breitet sich wie Krankheit aus“

Die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, würdigte die Polizisten, die sich dem Mob in den Weg stellten. „Während wir die Schrecken dieses Tages anerkennen, ehren wir den Heldenmut so vieler.“ Der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, mahnte: „Die Angriffe auf unsere Demokratie dauern an.“ Die von Trump gestreute „große Lüge“ breite sich „wie eine Krankheit“ aus. „Wenn wir nicht alle unseren Teil dazu beitragen, unsere Demokratie zu stärken, besteht die Gefahr, dass die politische Gewalt vom 6. Januar nicht nur eine Ausnahme, sondern, Gott bewahre, die Norm wird.“

Trump hat seine Betrugsbehauptungen zwar nie belegt - doch seine Strategie, Zweifel zu säen, scheint aufzugehen. Nach einer Umfrage der Nachrichtenseite Axios meinen nur 55 Prozent der Amerikaner, Biden habe die Wahl rechtmäßig gewonnen - sogar etwas weniger als vor einem Jahr (58 Prozent).

Frühere US-Präsidenten zeigten sich besorgt. Trump-Vorgänger Barack Obama meinte: „Wahr ist, dass unsere Demokratie heute gefährdeter ist als sie es damals war.“ Ex-Präsident Jimmy Carter schrieb in einem Beitrag für die „New York Times“: „Wenn wir nicht sofort handeln, besteht die reale Gefahr eines zivilen Konflikts und des Verlusts unserer wertvollen Demokratie.“

© dpa-infocom, dpa:220106-99-607190/14

Ähnliche Artikel