Berlin (dpa)
Neue grün-grüne „Freundschaft“ für den Agrarkonsens
Nach langen Auseinandersetzungen um mehr Tier- und Naturschutz auf Höfen und Feldern ruft die Regierung einen Neuanfang aus - auch für sich selbst. Konkrete Härteproben für die Eintracht kommen schon.
Nach häufigen Reibereien in der Bundesregierung wollen Agrar- und Umweltministerium beim geplanten Umbau der Landwirtschaft künftig an einem Strang ziehen.
Die beiden Ressortchefs Cem Özdemir und Steffi Lemke von den Grünen kündigten am Dienstag ein gemeinsames Vorgehen hin zu mehr Tier- und Naturschutz an, das aber auch eine gesicherte Finanzierung für die Bauern schaffen soll. Lemke sprach von einer neuen „strategischen Allianz“, die auch den Verbrauchern zugute komme. Umweltschützer und weitere Verbände forderten erneut einen grundlegenden „Systemwechsel“ in der Lebensmittelproduktion.
Man will die „andere Seite mitdenken“
Özdemir und Lemke nutzten einen Agrarkongress des Umweltressorts, um den Schulterschluss zu verkünden - und bedachten einander mit einer ganzen Reihe demonstrativer Freundlichkeiten, nachdem es zwischen ihren Amtsvorgängerinnen Julia Klöckner (CDU) und Svenja Schulze (SPD) immer wieder kleinere und größere Konflikte gegeben hatte. Allerdings sind gegensätzliche Herangehensweisen schon allein darin angelegt, dass das Agrarressort so etwas wie ein kleines Wirtschaftsministerium ist, mit stärkerem Blick für die Branche.
Im Fußball gebe es ja Fanfreundschaften, sagte Özdemir, glühender Anhänger des VfB Stuttgart. Und so ähnlich solle zwischen beiden Ministerien nun „eine Art Hausfreundschaft“ begründet werden. „Die Zeit, dass wir unsere Kräfte verpulvern im Tauziehen der Ressorts gehört ein für alle mal der Vergangenheit an.“ Künftig solle statt gegenseitiger Blockaden gelten, dass man „die andere Seite“ mitdenke.
Lemke erläuterte, dass das „eine Herkulesaufgabe“ sei. Und es sei nun nicht so, dass es nie wieder Streit geben könne. Ausdrücklich nannte die Diplom-Agraringenieurin es aber als eine Kernaufgabe, die Einkommen der Bauernhöfe zu stützen. Wie man eine Kuh melke oder einen Schweinestall von Hand ausmiste, wisse sie übrigens auch.
Unterschiedliche politische Felder beackern
Konkret geht es bei der gemeinsamen Mission darum, jetzt parallel mehrere politische Felder zu beackern. So will Özdemir noch in diesem Jahr eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung an den Start bringen. Die Umsetzung könnte nicht ganz leicht werden, zwei Anläufe scheiterten schon. Zuletzt wollte Klöckner ein freiwilliges Tierwohl-Logo mit Kriterien über dem gesetzlichen Standard in die Regale bringen - und erklärte wiederholt, verbindlich gehe das nur EU-weit. Außerdem gibt es schon eine eigene Fleischkennzeichnung der großen Supermarktketten. Das Logo mit der Aufschrift „Haltungsform“ hat vier Stufen, die aber schon mit dem Mindeststandard beginnen.
Özdemir machte deutlich, dass das Handelssystem nicht einfach gleich die Lösung bedeuten könne. Es seien alle aufgefordert mitzumachen und sich einzubringen. „Aber es ersetzt nicht staatliches Handeln.“ So habe er noch nicht gehört, dass es mit einer Finanzierung für den Umbau von Ställen einhergehe, wenn Händler wie angekündigt Fleisch der unteren Haltungsstufen aus dem Angebot nehmen wollen. Klar sei aber, dass ein finanzieller Ausgleich für die Höfe organisiert werden müsse. Denn: „Mehr Luft in den Ställen heißt weniger Einkommen.“
Schutz der Artenvielfalt
Das genaue Modell werde nun erarbeitet. „Entscheidend ist, dass am Ende Geld ankommt bei den Bäuerinnen und Bauern.“ Dabei müsse man nicht bei Null anfangen, sagte Özdemir und bezog sich ausdrücklich auf Vorschläge zweier Kommissionen, die noch die alte Regierung eingesetzt hatte. Darin hatten Vertreter von Ernährungsbranche und Bauern, Natur- und Verbraucherschützern, Handel und Wissenschaft einen Konsens erreicht - und die Beteiligten dringen darauf, dass die neue Regierung daran anknüpft. Im Gespräch ist unter anderem eine „Tierwohlabgabe“, denkbar wären 40 Cent mehr pro Kilogramm Fleisch.
Lemke nannte als Schwerpunkte den Schutz der Artenvielfalt oder die Bewahrung von Mooren und Wäldern. Bis Ostern will sie Eckpunkte für ein „Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz“ vorlegen. Dabei gehe es um Anreize und auch neue Einkommensperspektiven für Bauern. Das Wiedervernässen landwirtschaftlich genutzter Moorböden gilt als ein wichtiger Baustein im Kampf gegen den Klimawandel. Gemeinsam mit der Landwirtschaft soll zudem der Einsatz chemischer Pestizide reduziert werden. Auch die EU-Agrarfinanzierung müsse stärker daran gekoppelt sein, ob Höfe natur- und umweltfreundlich wirtschaften.
Özdemir beim Bauernverband
Özdemir stellte die Maximen am Abend gleich direkt den Bauern vor. Die Transformation müsse zügig angegangen werden, aber auch planbar und machbar sein, sagte er beim Jahresauftakt des Bauernverbands. Dabei sei ein Landwirtschaftsbetrieb „keine Franchise-Filiale“, die zentral Futter oder den Pestizid-Einsatz vorgeschrieben bekomme. Die Landwirte seien die Fachleute, sagte Özdemir - und betonte mit Blick auf kleine und große, Bio- und konventionelle Betriebe: „Ich will der Minister aller Bäuerinnen und Bauern sein.“ Die ganze Landwirtschaft müsse nachhaltiger werden, und zwar nach dem Motto: „Nicht mehr höher, schneller weiter, sondern besser, gesünder und miteinander.“
Bauernpräsident Joachim Rukwied sagte, die Betriebe wollten mehr Tierwohl und Nachhaltigkeit nach vorn bringen. „Das gilt es jetzt anzupacken.“ Wichtig sei aber, dass die Landwirtschaft vor allem auch jungen Leuten weiter wirtschaftliche Zukunftsperspektiven biete.
Opposition übt Kritik
Von der Opposition kam Kritik an der neuen Ministerien-Freundschaft. Umweltschutz in der Landwirtschaft sei „keine grüne Erfindung“, sagte Unionsfraktionsvize Steffen Bilger (CDU). Landwirte erwarteten in der gerade schwierigen Situation zu Recht, dass ihre Belange offensiv in der Regierung vertreten würden. Die Umweltorganisation WWF erklärte dagegen: „Gemeinsam ist besser als allein.“ Dabei sei Einheit auch „bitter nötig“, denn Herausforderungen wie mehr Biotope, lebendige Böden und saubere Gewässer könnten nur umweltpolitisch gelöst werden.
Weiter Druck für eine Agrarwende machen will ein Bündnis, das sonst jährlich zur Branchenmesse Grüne Woche in Berlin zu Demonstrationen unter dem Motto „Wir haben es satt“ aufruft. Ein großer Protestzug fällt wegen der Corona-Krise zwar ebenso aus wie die Messe. An diesem Samstag sollen aber bis zu 30 Traktoren durch das Regierungsviertel fahren, die Initiatoren wollen auch Forderungen an Özdemir übergehen. Ottmar Ilchmann, konventioneller Landwirt bei der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, kritisierte eine „Klientelpolitik“, die an Interessen der Höfe vorbeigehe. „Wir brauchen keine kosmetischen Veränderungen, sondern wir brauchen einen Systemwechsel.“
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