Brüssel/Berlin (dpa)

So schauen EU-Länder auf die Impfpflicht

Michel Winde, dpa
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Von Michel Winde, dpa
| 28.01.2022 07:45 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 4 Minuten
Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach befürwortet die Impfpflicht. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach befürwortet die Impfpflicht. Foto: Kay Nietfeld/dpa
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Impflicht ja oder nein? Darüber hat der Bundestag stundenlang debattiert. Gesundheitsminister Lauterbach sagt: „Wir müssen handeln.“ In etlichen anderen EU-Ländern sieht man das deutlich gelassener.

Ursula von der Leyen wollte eine Debatte über die Corona-Impfpflicht - und bekam die Debatte. Zumindest in Deutschland. Dort hat der Bundestag gerade das Für und Wider einer allgemeinen Impfpflicht abgewogen.

Doch in vielen anderen EU-Ländern - auch mit deutlich geringerer Impfquote - steht diese Diskussion nicht auf der Tagesordnung. Haben die Gegner einer Impfpflicht also Recht? Geht Deutschland einen unnötigen Sonderweg?

Es war Anfang Dezember, als EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen sich in die Debatte einschaltete. Eine Entscheidung über eine Impfpflicht sei zwar Sache der EU-Länder. Doch es sei angemessen, diese Debatte jetzt zu führen. In Deutschland, wo Spitzenpolitiker aller Parteien einen solchen Schritt lange ausgeschlossen hatten, drehte sich der Wind gerade. Steigende Fallzahlen, eine neue Variante und eine ungenügende Impfquote brachten manchen zum Umdenken.

„Wir müssen handeln“

Auch der damals noch designierte Kanzler Olaf Scholz änderte seine Meinung und stellte eine allgemeine Impfpflicht bis spätestens Anfang März in Aussicht. Der Zeitplan ist längst überholt, doch das Ziel des Kanzlers und seines Gesundheitsministers Karl Lauterbach (beide SPD) steht. „Wenn wir das Problem vor uns wegschieben, dann wird das Problem in voller Stärke zurückkommen“, sagte Lauterbach im Bundestag. Und: „Wir müssen handeln.“

Ginge es nach der Impfquote und wäre Deutschland der Maßstab, müssten in etlichen EU-Ländern Gesetzesvorschläge für eine allgemeine Impfpflicht auf dem Tisch liegen. In der Bundesrepublik sind rund 74 Prozent der Bürger grundimmunisiert. Damit liegt Deutschland im EU-Vergleich zwar nicht vorn, doch viele Länder rangieren mit weit geringeren Werten dahinter. Schlusslicht ist Bulgarien mit einer Quote von unter 30 Prozent. In Rumänien sind rund 41 Prozent der Bürger grundimmunisiert, in der Slowakei etwa 49 Prozent. Es folgen aufsteigend Kroatien (54), Polen (57) und Slowenien (57).

Kaum Debatten in anderen Ländern

Mit einer allgemeinen Impfpflicht würden diese Quoten wohl deutlich nach oben getrieben. Doch in all diesen Ländern gibt es darüber kaum eine Debatte. In Polen wird diskutiert, die Impfung für medizinisches Personal verpflichtend zu machen - ob das kommt, ist jedoch fraglich. In der Slowakei ist eine Impfpflicht politisch nicht durchsetzbar. Und selbst der Regierungschef von Impf-Schlusslicht Bulgarien, Kiril Petkow, betont stets, mit ihm werde es keine Impfpflicht geben.

Isabelle Marchais forscht am Jacques-Delors-Institut in Paris zur Gesundheitspolitik. Sie hat schon im Dezember 2020 in einem Beitrag darauf hingewiesen, dass in vielen EU-Ländern womöglich eine große Impfskepsis herrscht.

Nun, gut ein Jahr später, verfolgt Marchais die Situation mit großem Interesse. Auch sie nimmt wahr, dass viele Regierungen das Thema meiden - und zwar aus vielerlei Gründen. Marchais verweist unter anderem auf rechtliche Unsicherheiten bei der Umsetzung einer Impfpflicht, zumal die Impfstoffe in der EU bis heute nur eine bedingte Zulassung der zuständigen EU-Behörde erhalten haben. Das bedeutet zwar nicht, dass sie nicht akribisch getestet worden sind und EU-Standards etwa bei Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit nicht erfüllen. Doch die Hersteller müssen weitere Daten zu ihren Vakzinen an die Behörde liefern. Zudem gebe es in vielen Ländern eine laute Minderheit der Impfgegner, sagt Marchais. Und dann stellen sich bei einem solchen Eingriff ins Private noch ethische Fragen.

Es gibt gute Argumente

„Die Regierungen sind sehr vorsichtig“, sagt Marchais. Dabei gebe es auch gute Argumente für eine allgemeine Impfpflicht - etwa den Schutz besonders gefährdeter Gruppen, die sich aus medizinischen Gründen nicht gegen Covid-19 impfen lassen können.

Einige Länder haben deshalb alters- oder berufsbezogene Regelungen eingeführt. In Italien und Griechenland gibt es eine Impfpflicht für Ältere. In Deutschland müssen Beschäftigte in Einrichtungen mit schutzbedürftigen Menschen wie Kliniken bald nachweisen, dass sie geimpft oder genesen sind. Auch in Ungarn, Frankreich und Finnland gibt es derlei Regelungen.

In Ländern wie Portugal, Spanien, Dänemark oder den Niederlanden steht auch das nicht zur Debatte. Vielmehr kündigte Dänemark gerade an, bald alle Corona-Maßnahmen aufzuheben. Das Land steht beim Impfen deutlich besser da als Deutschland. Die Bevölkerung ab 60 ist fast komplett grundimmunisiert. Ähnlich ist die Lage in Portugal, Irland, Malta und Spanien.

Einzig Österreich ist auf einem ähnlichen Weg wie Deutschland: Dort soll bald eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren kommen.

Sind Österreich und Deutschland mit ihren Plänen in der EU also isoliert? Oder werden sie im Laufe der Pandemie noch zu Vorreitern? Marchais hält Vorhersagen für schwierig. Doch falls die Corona-Lage sich wieder stark verschlechtere - etwa mit einer neuen Variante und explodierenden Krankenhaus-Einweisungen - könnten ihrer Meinung nach weitere Staaten nachziehen. Eins steht für Marchais fest: „Die anderen Länder werden die Entwicklung in Deutschland und Österreich genau verfolgen.“

© dpa-infocom, dpa:220128-99-881710/3

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