Berlin/Hamburg (dpa)
Tocotronic: Verwerfungen und Neubeginn
Es hat eine Weile gedauert, was auch mit der Pandemie zusammenhängt. Nun kommt das neue Tocotronic-Album „Nie wieder Krieg“. Es ist eine Reise an die Übergänge von Realität und Traum.
Es gibt wieder keine Sicherheiten. Die Wege durch die Welt von Tocotronic stecken voller Windungen, Kehren, überraschenden Abzweigungen.
Mit ihrem neuen Album „Nie wieder Krieg“ entführt die Band um Sänger Dirk von Lowtzow an die Übergänge von Realität zu Traum, von banalem Alltag zu intensivem Gefühl. Zwölf Songs lang zeigen die Musiker, wie wunderbar inspirierend und gleichzeitig tanzbar ihre Stücke immer wieder sein können.
Nach vier Jahren Pause
Seit der letzten Studioeinspielung bis zu diesem 13. Album hat es auch pandemiebedingt vier Jahre gedauert. „So hatten wir das Glück, angefangene Songs liegen lassen zu können“, sagt von Lowtzow im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Das Album hat damit eine größere Sorgfalt und Präzision. Ein bisschen mehr Zeit zum Nachdenken, für Verwerfungen und Neubeginn.“
Das Album ist eine kleine Reise geworden, es lässt sich eine Dramaturgie darin entdecken. Die paroligen Ansätze - von der Band „Sloganeering“ genannt - bergen politisch-klare Ansagen etwa bei den bereits veröffentlichten Singles „Nie wieder Krieg“ und „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ oder in „Komm mit in meine freie Welt“.
Intimer auf Zweisamkeit und Gefühle bezogen wird es mit „Ich gehe unter“, dem das Album unmittelbar „Ich tauche auf“ folgen lässt. Dort hat die als Soap&Skin arbeitende Sängerin Anja Plaschg einen Part übernommen.
Offene Tür in der hermetischen Welt
Damit lassen sich von Lowtzow, Bassist Jan Müller, Gitarrist Rick McPhail und Schlagzeuger Arne Zank erstmals auf eine Gastmusikerin ein. „Wir sind als Band sehr autonom, so eine Zelle“, erläutert von Lowtzow. „Das birgt manchmal auch die Gefahr, dass man ein bisschen hermetisch nach außen wirkt. Wir haben auch viel darüber gesprochen, wie man diesen Nukleus öffnen kann.“
Die Band habe das lange nicht zugelassen. „Keiner quatscht einem rein und wir machen das alles untereinander.“ Das sei auch wichtig. „Wenn man es dann zulässt und sich öffnet für Leute, dann kriegt das noch mal eine andere Färbung.“
Weiter in die Niederungen des Alltags. „Wenn die Liebe endet, ist es mitten in der Nacht“, heißt es im Song „Ich hasse es hier“. Da wird die kaum veredelbare Pizza aus dem Tiefkühlfach zum Synonym für Trostlosigkeit. „Nachtflug“ beginnt mit einer für Tocotronic typisch rätselhaften Zeile „Das vorletzte Glas, trink ich nicht aus“ und wird zu einer wunderschön gefühlvollen Reise durch die aus der Nacht erwachende Stadt. Das Monster im gleichnamigen Song ist auch eher ein Sehnsuchtswesen: „Monster, ich folge dir, durch die Schranktür - für immer.“
Es ist ein rockiges, von Gitarren bestimmtes Album geworden. Das wird gerade auch durch dazwischen platzierte, balladig-ruhige Elemente oder geschmeidige Pop-Töne betont. Melodien und Texte bleiben im Ohr, setzen sich nachhaltig fest. Dabei warnt die Band in „Leicht lädiert“ noch: „Ihr sollt euch keinen Songtext aufschwatzen lassen.“
Seit fast drei Jahrzehnten ist Tocotronic mit Indie-Rock dabei. Die Band wird neben Blumfeld und Die Sterne trotz weitgehender Übersiedlung in die Hauptstadt noch immer zu den wichtigsten Vertretern der intellektuellen „Hamburger Schule“ gezählt. Die letzten acht Platten waren alle in den Top Ten platziert.
Weitgehend konfliktfrei
Das neue Album ist für von Lowtzow kein Selbstläufer. „Wenn man so eine langjährige Praxis hat wie wir, ist es gar nicht so selbstverständlich, dass man überhaupt ein Album macht, man das Gefühl hat, man hat was zu sagen.“ Die Band funktioniere weitgehend konfliktfrei. „Da ist man schon wahnsinnig froh. Deshalb sehen wir es im Überschwang als eines unserer schönsten Alben.“
Es geht für ihn um innere Zerrissenheit, seelische Kipppunkte. „Es ist das persönlichste Album, das wir gemacht haben“, findet von Lowtzow. Zwar wolle er „die Leute nicht mit seinem Gefühlsquark belästigen“, aber „ich bin sehr froh, dass wir das so gemacht haben“.
Er habe als Songwriter in sich hinein gehorcht. „Was will ich eigentlich mitteilen? Was sind das für Stimmungen, Heimsuchung und Dämonen, denen man ausgesetzt ist?“ Nicht nur mit der für März und April geplanten Tour. können Tocotronic-Fans auf Fortsetzung von Gefühlen und Seelenschau hoffen. In „Ich gehe unter“ heißt es bei der Band: „Das ist ein Hilfeschrei, es gibt uns immer noch, wir sind noch nicht vorbei.“
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