Berlin/Hannover (dpa)
Klima, Corona, Krieg: Wie sich das Lebensgefühl verändert
Russlands Armee hat die Ukraine angegriffen. Seit wenigen Tagen ist Krieg in Europa - dabei hatten viele auf eine Überwindung der Pandemie und eine unbeschwertere Zeit gehofft. Was kann jetzt Mut machen?
Zeitenwende, Zäsur, Putins Krieg - das sind Worte, mit denen versucht wird, den russischen Einmarsch in die Ukraine zu beschreiben. Weit mehr als 100.000 Menschen sind am Sonntag allein in Berlin gegen den Krieg auf die Straße gegangen. In Friedenskundgebungen trugen viele aus Solidarität mit der Ukraine blau-gelbe Fahnen.
„Russland, stoppt Euer Monster!“ stand am Samstag auf einem Plakat in Hannover. Es zeigt eine Karikatur von Präsident Wladimir Putin, der zu Kriegsbeginn auf Russlands atomare Macht hinwies und zuletzt die Abschreckungswaffen in Alarmbereitschaft versetzen ließ.
Nach zwei Jahren Pandemie und dem langen Winter hatten viele gehofft, dass mit dem Frühling und den Corona-Lockerungen ein unbeschwerteres Leben zurückkehrt. Doch bringen das Fernsehen und die sozialen Medien den Krieg quasi in Echtzeit ins Wohnzimmer. Die Menschen in der Ukraine kämpfen ums Überleben, Männer ziehen für ihr Land und den Erhalt der Demokratie in den bewaffneten Kampf, Frauen und Kinder flüchten über die Grenze, Deutschland liefert Waffen.
Mediziner: Solidarisches Handeln gefragt
Was machen die Bilder vom nur rund zwei Flugstunden entfernten Krieg mit den Menschen in Deutschland? Kommt jetzt die Generation Zukunftsangst?
„Es ist völlig berechtigt und verständlich, jetzt Angst zu haben“, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Putins kaltblütiger Überfall, der Krieg vor der eigenen Haustür, das beunruhige auch ihn persönlich sehr, zumal ihm als Älteren der Kalte Krieg noch sehr präsent sei. „Wenn Angst der Antrieb ist, zu überlegen, was zu tun ist, kann etwas Produktives daraus werden“, sagte der Mediziner. In vielen Bereichen sei jetzt solidarisches Handeln gefragt.
Wird es nun eine Welle der Hilfsbereitschaft geben wie vor sieben Jahren, als Tausende Flüchtende aus Syrien, dem Irak und Afghanistan kamen? Oder sind viele inzwischen zu sehr mit sich selbst und ihren eigenen Sorgen beschäftigt?
Bei vielen jungen Menschen haben sich psychische Belastungen und Zukunftsängste während der Pandemie verschärft. Dafür gibt die Studie „JuCo III“ der Universitäten Hildesheim und Frankfurt/Main Anhaltspunkte. 54 Prozent stimmten im Dezember 2021 der Aussage voll zu, dass sie besonders psychisch belastet seien. Ein Jahr zuvor lag dieser Anteil noch bei 41 Prozent. Online befragt wurden 6200 zufällig ausgewählte 15- bis 30-Jährige. Auch psychiatrische Kliniken, Krankenkassen und Therapeuten berichten von einem Anstieg der Behandlungsfälle.
Die Umweltaktivisten von Fridays for Future setzten kurze Zeit vor der Pandemie die Bedrohung des Planeten auf die Agenda. Die globale Erwärmung führt schon heute zu Katastrophen weltweit, das haben etwa die Menschen im Ahrtal und anderen Orten in Westdeutschland im Juli auf erschreckende Weise erfahren. Seit zwei Jahren werden wir zudem täglich mit den Corona-Toten in der Statistik konfrontiert. Und jetzt auch noch ein Krieg in Europa.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock als erste Reaktion auf den russischen Angriff. Baerbock ist eine Protagonistin im neuen Buch der Berliner Schriftstellerin Nora Bossong. „Die Geschmeidigen: Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“, lautet der Titel.
Neue Dimension der Bedrohung?
„Meine Generation wuchs auf in einem Europa, das sich des Friedens überwiegend sicher war“, sagte die 40-jährige Bossong der Deutschen Presse-Agentur. Der Kosovokrieg habe diesen Frieden Ende der 1990er Jahre erschüttert. „Die Kriegsaggression Russlands, einer Atommacht und Vetomacht im UN-Sicherheitsrat, hat aber eine bislang nicht dagewesene Dimension der Bedrohung. Die vermeintliche Sicherheit, die unser Leben bisher zumindest in Deutschland gekennzeichnet hat, ist infrage gestellt.“
Bossong hofft, dass sich die im Frieden Aufgewachsenen jetzt in der Pflicht sehen, Engagement zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. „Im besten Fall kann meine Generation aus dem früh gelernten Vertrauen in eine stabiler werdende Welt Kraft schöpfen“, meint sie. „Im schlechten Fall finden wir keine passenden Handlungsoptionen, ziehen uns ins Private zurück, fallen vielleicht auch in Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht.“
Das Gefühl von Ausweglosigkeit kann auch bei der Beschäftigung mit dem Klimawandel entstehen. Katharina van Bronswijk von Psychologists for Future spricht lieber von Klima-Emotionen als von Klima-Angst. Zu ihnen gehörten Wut, Empörung über untätige Politiker sowie Trauerprozesse, sagte die Hamburger Psychologin. „Es hilft, mit Anderen zu sprechen, gemeinsam ins Handeln zu kommen und Problemlösungen zu finden.“ Dies gelte für alle Krisen und seit wenigen Tagen auch angesichts des Kriegs in der Ukraine.
Jugendforscher Simon Schnetzer hofft ebenfalls darauf, dass junge Menschen aktiv werden: „Anders als beim Virus ist der Krieg von Menschen gemacht“, sagte der Autor der Studie „Junge Deutsche“. Er wünsche sich neue Formate, in denen junge Menschen aus verschiedenen Ländern von unten gegen Krieg mobilisierten.
Die Umweltaktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future war eine der Rednerinnen bei der großen Friedens-Demo am Sonntag in Berlin. „Wir sehen als global vernetzte Bewegung und Generation, wie die Krisen zusammenhängen“, sagte die 25-Jährige der dpa. „Solange unsere Energieversorgung von Kohle, Öl und Gas aus Russland abhängt, finanzieren wir das System Putin weiter - und damit auch diese Kriege.“
Ein konsequenter Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas und ein radikaler, gerechter Einstieg in erneuerbare Energien müsse aus diesem Krieg folgen. Still auf Besserung zu hoffen, verändere die Dinge nicht, sagte Neubauer. Dies erkennen aus Sicht der Studentin die Menschen zunehmend - und gehen daher in so großer Zahl auf die Straße.
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