Berlin (dpa)

Nach AKW-Beschuss: Muss Deutschland Vorkehrungen treffen?

Fatima Abbas, Helge Toben und Jan Petermann, dpa
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Von Fatima Abbas, Helge Toben und Jan Petermann, dpa
| 04.03.2022 04:48 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja. Hier ist es zu einem Brand gekommen. Erhöhte Strahlung ist bislang nicht gemessen worden. Foto: Uncredited/AP/dpa
Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja. Hier ist es zu einem Brand gekommen. Erhöhte Strahlung ist bislang nicht gemessen worden. Foto: Uncredited/AP/dpa
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Das Feuer an einem Nuklearmeiler in der Ukraine beunruhigt viele Menschen. Radioaktivität soll nach ersten Einschätzungen nicht ausgetreten sein - dennoch bleiben Fragen zur Sicherheit der Anlagen.

In einem Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja hat es in der Nacht gebrannt. In Deutschland wächst nun die Sorge vor möglichen Angriffen auf Atomkraftwerke, die sich im Kriegsgebiet befinden.

Wie groß ist die Gefährdungslage? Und muss jetzt auch die deutsche Bevölkerung Vorkehrungen treffen? Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Die aktuelle Gefahr von atomarer Strahlung

„Radiologische Auswirkungen auf Deutschland sind nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten“, versichert das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit Stand Freitagmorgen auf seiner Webseite. Alle radiologischen Messwerte am ukrainischen Kraftwerk Saporischschja bewegten „sich weiter im normalen Bereich“. Das AKW ist etwa 1600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Das BfS und das Bundesumweltministerium beobachten nach eigenen Angaben die Lage und informieren über neue Entwicklungen.

Was kann passieren, wenn ein Reaktor angegriffen wird?

Das kommt darauf an. Ein Beschuss der Anlage müsse nicht zwangsläufig zu einem kerntechnischen Unfall führen, sagt Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). „Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein.“ Die sicherheitstechnisch wichtigen Anlagen in der Ukraine seien in geschützten Gebäuden untergebracht. „Sie würden einem Beschuss durchaus standhalten können, das hängt allerdings auch von der Schwere des Beschusses ab.“

Der Reaktor selbst werde von einer Stahlbetonhülle geschützt, der einen Absturz eines kleinen Flugzeugs aushalten könne. „Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt.“ Erst wenn dauerhaft der Strom ausfallen und das gesicherte Kühlwassersystem versagen würde und auch sämtliche Notstromaggregate ausfallen würden, würde es letzten Endes zu einem Ausfall der Nachkühlung kommen. Dies könne zu einer Kernschmelze führen. Experten wie Wolfgang Raskob vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gehen davon aus, dass in der Ukraine im Falle eines größeren Atom-Unfalls wohl dieselben Stoffe freigesetzt würden wie einst 1986 in Tschernobyl. Einige radioaktive Formen dieser Stoffe - etwa von Cäsium, Strontium und Iod - oder deren Verbindungen sind neben der Strahlengefahr auch noch giftig.

Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?

Atomtechnik-Experte Stransky betont, dass in den vergangenen Jahren viel für die Erhöhung der Sicherheit in den ukrainischen Anlagen getan wurde. Im konkreten Fall des ukrainischen AKW Saporischschja weisen Experten auf einen wichtigen Unterschied zu Anlagen im japanischen Fukushima und auch im ukrainischen Tschernobyl hin: Die Anlage in Saporischschja habe anders als Tschernobyl einen getrennten Kühlkreislauf und eine besondere Schutzschicht, um eine Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern.

Was tun die deutschen Behörden aktuell?

Bundesumweltministerium und BfS befinden sich nach eigenen Angaben in einem sehr engen Austausch mit der ukrainischen Regierung, der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und Experten auf der ganzen Welt. Soweit es Hinweise auf erhöhte Radioaktivität gebe, gehe das BfS diesen Hinweisen nach. Den Angaben zufolge werden sämtliche Messeinrichtungen in Deutschland regelmäßig überwacht. Deutschland verfüge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise über das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS. Im Alltag liefern die circa 1700 Messsonden und weitere Messnetze laufend Daten über die Radioaktivität in der Umwelt.

Deutsche Vorkehrungen für erhöhte Strahlenbelastung

In Deutschland sind 189,5 Millionen Jodtabletten in den Bundesländern bevorratet. Sollte ein Ereignis eintreten, bei dem radioaktives Jod in der Luft zu erwarten ist, übernehmen die Katastrophenschutzbehörden die Verteilung der Tabletten in den möglicherweise betroffenen Gebieten. Von radioaktivem Jod ausgehende Strahlung kann für Menschen sehr gefährlich sein und etwa die Wahrscheinlichkeit von Schilddrüsenkrebs erhöhen. Die Einnahme von Jodtabletten schützt dem Umweltministerium zufolge aber ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe.

Wie sollten sich die Bürger verhalten?

„Eine Selbstmedikation mit hoch dosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinen Nutzen“, schreibt das Bundesamt für Strahlenschutz. Auch die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, die in den vergangenen Tagen eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Jodtabletten registriert, warnt vor einer Einnahme von Jodpräparaten. Dazu gebe es aktuell keinen Anlass, erklärte eine Sprecherin am Freitag. Das Umweltministerium weist auf seiner Informationsseite „jodblockade.de“ außerdem darauf hin, dass im Katastrophenfall hoch dosierte Pillen nötig seien, die nicht überall erhältlich sind. Sie dürften „nicht mit den Jodtabletten verwechselt werden, die zur Behandlung von Schilddrüsenkrankheiten vom Arzt verschrieben werden“, heißt es dazu. Auch die Sprecherin der Apothekerverbände gibt zu bedenken, dass man von den niedrig dosierten Tabletten, die in nahezu jeder Apotheke erhältlich seien, im Fall eines Atomunglücks theoretisch eine utopische Menge einnehmen müsste.

Was geschieht bei einem nuklearen Notfall?

Dann käme das radiologische Lagezentrum des Bundes zum Einsatz. Die Öffentlichkeit würde unmittelbar informiert und, sofern erforderlich, würden Handlungsempfehlungen herausgegeben.

© dpa-infocom, dpa:220304-99-377165/21

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