Kiew (dpa)

Hoffen auf humanitären Korridor: Und was kommt danach?

Sebastian Fischer und Ulf Mauder, dpa
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Von Sebastian Fischer und Ulf Mauder, dpa
| 05.03.2022 18:17 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
In einem östlichen Stadtteil von Aleppo fliehen Menschen vor dem Krieg (Archivbild). Foto: Hassan Ammar/AP/dpa
In einem östlichen Stadtteil von Aleppo fliehen Menschen vor dem Krieg (Archivbild). Foto: Hassan Ammar/AP/dpa
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Russland und die Ukraine einigen sich auf eine Feuerpause für einen humanitären Korridor für Hilfsgüter. Zivilisten dürfen flüchten. Manche sind skeptisch, aber es gibt auch Hoffnung.

Die Hoffnungen waren groß, das Ergebnis mager: Russland und die Ukraine hatten vereinbart, einen humanitären Korridor in der Region um die südukrainische Hafenstadt Stadt Mariupol einzurichten.

Dort sollten die Waffen zumindest zeitweise schweigen, um Zivilisten einen Weg aus der umkämpften Stadt zu eröffnen. Doch sowohl am Samstag als auch am Sonntag warfen sich beide Seiten gegenseitig eine Verletzung der Feuerpause vor. Die Evakuierungen wurden deshalb zunächst ausgesetzt. Das russische Militär setzte nach eigenen Angaben seine Angriffe fort. Die Entwicklung dürfte jene bestätigen, die humanitäre Korridore ohnehin skeptisch sehen. Denn das Nachspiel könnte verheerend sein, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

Wie ist die Lage in Mariupol?

Hunderttausende harren dort in Angst aus. „Die Menschen leben in Terror in Mariupol“, teilte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) mit. Sie sehnten sich nach Sicherheit. „Die Menschen brauchen dringend Wasser, Nahrung und Unterkunft“, so das ICRC. Es fehle an den grundlegenden Dingen des Lebens. Auch die Helfer brauchen nach eigenen Angaben Sicherheitsgarantien, um den Menschen Hilfe zu bringen.

Aber die russische und die ukrainische Seite geben sich gegenseitig die Schuld am Scheitern nicht nur der Feuerpause, sondern auch daran, dass der humanitäre Korridor nicht funktioniert. Das Rote Kreuz vermied eine klare Schuldzuweisung, teilte aber mit, in der Vereinbarung zum humanitären Korridor fehle es an Details.

Nach Angaben der prorussischen Separatisten gelang es, einige Hunderte Menschen über die geplante Route in Sicherheit zu bringen. Die ukrainischen Behörden warfen aber der russischen Seite vor, die Evakuierung der Stadt behindert zu haben. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben von keiner Seite in dem Krieg.

Auf Bildern aus der Stadt sind schwere Zerstörungen von Gebäuden zu sehen. Nötig sind nach Angaben des Roten Kreuzes klare Festlegungen für den humanitären Korridor - zu Uhrzeiten, Treffpunkten und Routen. Vereinbart werden müsse auch, wer konkret in Sicherheit gebracht werden solle. Das Rote Kreuz habe nur kurze Zeit helfen können, bevor die Gewalt wieder aufflammte, hieß es. Die Helfer seien aber auch bereit für neue Versuche.

Was erwarten die Konfliktparteien?

Die ukrainischen Behörden rechnen damit, dass mehr als 200.000 Menschen Mariupol in der Region Donezk während der Waffenruhe verlassen. Das wäre knapp die Hälfte der Bevölkerung. Für die Stadt Wolnowacha werde von 15.000 Menschen ausgegangen, sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Die Evakuierung soll etappenweise über mehrere Tage erfolgen, hieß es. Dazu werden Busse bereitgestellt. Die beiden Städte gelten als Brennpunkte in der Region. Die Infrastruktur ist den Behörden zufolge weitgehend zerstört.

Wo sind die Korridore geplant - und für wie lang?

Als wichtigster Fluchtkorridor ist die Strecke von Mariupol bis Saporischschja vorgesehen, das sind etwa 225 Kilometer. Die Menschen sind aufgerufen, zu ihrer eigenen Sicherheit auf keinen Fall von der zwischen der ukrainischen und der russischen Armee vereinbarten Route abzuweichen. Die Evakuierung soll an mehreren Tagen erfolgen. Neben städtischen Bussen könnten Einwohner mit eigenen Autos die Stadt verlassen. „Nehmen Sie so viele Menschen mit wie möglich“, appellierte die Stadt.

Wie sind die Korridore rechtlich geregelt?

Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet unabhängig solcher Korridore alle Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung, verwundete Soldaten oder Gefangene zu schützen. Krankenhäuser sind grundsätzlich nach den Genfer Konventionen vor Angriffen zu bewahren. Dazu tauschen die Gegner die Standorte der medizinische Einrichtungen aus. Darüber hinaus können nach gegenseitiger Absprache Sanitäts- und Sicherheitszonen eingerichtet werden. Das ist im „Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ geregelt.

Daneben können sich Kriegsparteien auch darauf einigen, Verwundeten- oder Hilfstransporte entlang bestimmter Korridore durch anerkannte humanitäre Akteure wie Hilfsorganisationen nicht zu behelligen. Wasser, Lebensmittel, Medikamente, medizinische Versorgung und alltägliche Güter können in die Konfliktregion gebracht werden, Zivilisten haben die Möglichkeit, die umkämpften Gebiete zu verlassen. Anders als bei einem vereinbarten Waffenstillstand werden um die Korridore herum die Kämpfe weitergeführt.

Humanitäre Korridore haben aber nach Angaben des Beirats der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention und Friedensförderung nicht direkt den Schutz der Bevölkerung zum Ziel. Sie könnten aber dazu beitragen, Gewalt zu reduzieren. Eine unabhängige Instanz, die die Achtung dieser Korridore durchsetzen könnte, gibt es nicht.

Wie beurteilen Experten die Feuerpause?

Der CDU-Verteidigungspolitiker Henning Otte sieht in Waffenruhen und humanitäre Lieferungen durchaus eine Chance: Diese könnten „ein offenes Fenster werden für einen Waffenstillstand und für Verhandlungen“, sagt er am Samstag im Deutschlandfunk.

Nach Ansicht des früheren Nato-Generals Egon Ramms berge eine Feuerpause allerdings auch die Gefahr, dass eine Seite ihre Truppen neu sortiere und militärische Operationen vorbereite. Dann gebe es die Möglichkeit, ohne eine relative Bedrohung der anderen Seite „Kräfte umzugruppieren oder Kräfte nachzuführen“ sowie Nachschub bei der Versorgung zu organisieren, so Ramms am Samstag im ARD-„Morgenmagazin“.

Das Internationale Rote Kreuz begrüßt Initiativen wie solche Korridore, die zur Sicherheit von Zivilisten beitragen könnten. „Diese müssten aber sehr gut geplant, sehr gut koordiniert und sehr gut kommuniziert sein“, sagt ein Sprecher der Deutschen Presse-Agentur. Das sei unter Umständen ein schwieriges Unterfangen. Die Hilfsorganisation macht zudem darauf aufmerksam, dass trotz solcher Maßnahmen „Zivilisten unter allen Umständen nicht Ziel von Kampfhandlungen sein dürften“.

Haben sich solche Maßnahmen früher bewährt?

Es ist nicht das erste Mal, dass Russland eine lokale Bevölkerung auffordert, ein umkämpftes Gebiet zu verlassen. Das hatte teils verheerende Folgen. In der nordsyrischen Rebellen-Hochburg Aleppo kommt es zum Beispiel 2016 immer wieder zu mehrtägigen Feuerpausen. Später folgen schwere Angriffe der syrischen Truppen und massive Luftschläge der russischen Verbündeten. Damaskus übernimmt letztlich die Kontrolle über eine völlig verwüstete Stadt.

Und so war es auch in Grosny, der Hauptstadt der seinerzeit abtrünnigen russischen Teilrepublik Tschetschenien. Im Dezember 1999 ruft Moskau Zivilisten auf, die Stadt im Kaukasus innerhalb weniger Tage über sichere Korridore zu verlassen. Nach weiteren Wochen erbitterter Kämpfe wird die Infrastruktur komplett zerstört.

© dpa-infocom, dpa:220305-99-399142/10

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