Nürnberg/Berlin (dpa)
Stress und Solidarität - Tafeln versorgen Geflüchtete
Neues Land, neue Währung, leere Taschen - für viele Geflüchtete sind die Tafeln eine wichtige Stütze bei der Lebensmittelversorgung. Dort hat man neben neuem Stress noch ganz andere Probleme.
Zehntausende Menschen sind in den vergangenen Wochen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet - viele von ihnen versorgen sich in einer der fast 1000 Tafeln mit Lebensmitteln. „Das sind Herausforderungen, die wir so noch nie hatten“, sagt der Vorsitzende von Tafel Deutschland, Jochen Brühl.
Die Verantwortlichen berichten von großer Hilfsbereitschaft, aber auch von zunehmender Belastung. Und dann haben sie auch noch mit gestiegenen Energie-, Strom- und Lebensmittelpreisen zu kämpfen.
Großer Andrang
Zahlreiche ukrainische Geflüchtete drängen sich an diesem Dienstag in Nürnberg von Theke zu Theke. Ehrenamtliche reichen ihnen Obst, Gemüse, Milch oder Kaffee. Vor der Tür der Halle in einem Gewerbegebiet wartet eine Menschenmenge auf Einlass - Szenen, wie sie sich gerade bei vielen Tafeln abspielen. „Als wir das erste Mal den Hof voll hatten, habe ich gedacht, das ist ein Scherz“, sagt Edeltraud Rager, die Leiterin der Nürnberger Tafel. „Im Moment machen wir hier alle eigentlich rund um die Uhr Chaosbewältigung.“
In Nürnberg wird auch warmes Essen angeboten, was für eine Tafel ungewöhnlich ist. 50 bis 60 Portionen gab es vor Kriegsbeginn an zwei Wochentagen - im März wurden in der Spitze fast 1400 Essen pro Tag ausgegeben. Das „Kerngeschäft“ der Tafeln ist aber die Ausgabe nicht zubereiteter Lebensmittel zum Mitnehmen. Gut 2200 Neukunden aus der Ukraine sind im März allein in Nürnberg dazugekommen.
„Wir sind gefordert so wie nie“, sagt Brühl von Tafel Deutschland. Bei zahlreichen Tafeln steigt die Nachfrage, teils werden extra Ausgabetage für Geflüchtete eingerichtet. Peter Bäsch von der Koblenzer Tafel berichtet: „Wir haben gestern ein Überrennen erlebt.“
Auf Spenden aus dem Handel angewiesen
Tafeln kaufen aus Prinzip nichts zu, sondern sind auf Spenden nicht verkaufter Lebensmittel aus dem Handel angewiesen. „Das ist ein soziales und ein ökologisches Engagement“, betont Brühl. „Wir sind in Deutschland mit Abstand die größten Lebensmittelretter.“
Viele Tafeln berichteten derzeit aber, dass an den Rampen der Märkte wesentlich weniger Lebensmittel zur Abholung bereitstünden. Es werde viel direkt in die Ukraine gespendet. Und: „Leergehamsterte Supermärkte bedeuten auch, dass weniger übrigbleibt.“ Rager sagt: „Wir können im Moment die Leute noch bedienen. Aber wenn dieser Kundenstrom dauerhaft bleibt, wird es eng.“ Privatspenden könnten laut den Verantwortlichen helfen. Gefragt sei vor allem Trockenware, die in den Läden selten übrigbleibt: Nudeln, Reis, Mehl oder Öl, aber auch Windeln oder Damenhygieneartikel.
Zudem sind die Tafeln von den in die Höhe geschossenen Energie- und Spritpreisen gleich von zwei Seiten betroffen: Tafeln unterhalten Kühlhäuser, sie müssen Räume heizen, die nun länger geöffnet sind. Und sie müssen die Lebensmittel abholen. Der Dieselpreis schlage da stark durch, sagt Rager. Gleichzeitig kommen viele armutsbetroffene Menschen durch diese Kosten und die hohen Lebensmittelpreise ans Limit und suchen erstmals eine Tafel auf, wie Jochen Brühl erklärt.
Lebensmittelrettung kostet Geld
Die Tafeln würden durch den Staat bislang nur projektbezogen finanziell unterstützt, sagt er. „Aber die Lebensmittelrettung an sich kostet Geld: Transport, Lager, Kühlung. Wir fordern eine verlässliche finanzielle Förderung unserer Arbeit.“
Für die meist ehrenamtlichen Helfer bedeutet der Andrang zusätzliche Belastung. In Nürnberg gibt es jetzt eine Sieben-Tage-Woche. Rager sagt, es meldeten sich zwar viele neue Ehrenamtliche, diese hätten aber meist nur an einzelnen Tagen Zeit. Die „Säulen“ der Tafeln seien weiterhin Rentner. Die Stimmung im Nürnberger Team ist an diesem Dienstag gut, teils fast euphorisch in all dem Durcheinander. Rager aber warnt: „Die Gefahr ist schon groß, dass man sich übernimmt.“
Was teils übersehen werde, sei die Integrationsarbeit, die Tafeln leisteten, sagt Brühl. 2015 hätten viele Geflüchtete geholfen und so die Sprache gelernt. In Nürnberg hilft die Ukrainerin Natalia Khlivna. Die Frau aus Kiew hat bald nach ihrer Ankunft beschlossen, in der Tafel „die Seiten zu wechseln“. Nun reicht sie Landsleuten Essen über die Theke. „Viele Menschen brauchen Hilfe“, sagt sie.
Stammkunden werden nicht vergessen
Bis Geflüchtete staatliche Leistungen bekommen, dauert es eine Weile. Zwar werden sie in den Unterkünften versorgt oder bekommen Hilfe von Verwandten und Freiwilligen - die Tafeln sind aber eine willkommene zusätzliche Quelle. „Wir kaufen auch viel Essen und Trinken. Die Tafel hilft uns“, lässt die aus Kiew geflüchtete Oksana Novak von ihrer Tochter Anastasiia übersetzen, die schon seit drei Jahren in Nürnberg lebt. „Die Freiwilligen, die hier arbeiten - das ist toll, unglaublich toll“, sagt sie. Auch Irakli Gvalia, gebürtiger Georgier und gemeinsam mit seiner Frau Oksana aus Dnipro geflüchtet, lobt die Tafel. „Wir sind hier nicht hungrig“, sagt er.
Die Verantwortlichen betonen, dass die Stammkunden trotz der Neuankömmlinge nicht vergessen werden. Teils werde schon gemurrt, sagt Rager. Viele der Altkunden seien aber hilfsbereit. Sie müssen sich demnach auf längere Wartezeiten einstellen - mit leeren Händen soll niemand nach Hause gehen. Rager sagt: „Wer kommt, kriegt was zu essen - Punkt.“
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