Berlin/Hannover (dpa)

Wäre ein russischer Energie-Lieferstopp zu verkraften?

Jan Petermann, Alexander Sturm und Helge Toben, dpa
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Von Jan Petermann, Alexander Sturm und Helge Toben, dpa
| 05.04.2022 08:09 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Ein Mitarbeiter geht an einem Teil einer Erdgasleitung am Gelände der Gas Connect Austria Verdichterstation. Foto: Harald Schneider/APA/dpa
Ein Mitarbeiter geht an einem Teil einer Erdgasleitung am Gelände der Gas Connect Austria Verdichterstation. Foto: Harald Schneider/APA/dpa
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Nach den Berichten über Kriegsverbrechen durch russische Truppen in der Ukraine flammt in Deutschland die Diskussion über ein Energie-Embargo wieder auf. Doch was würde das bedeuten?

Ganz ohne russisches Gas - das gelingt jetzt schon dem EU-Land Litauen, aber Deutschland ist weit davon entfernt. Seit dem Wochenende deckt der baltische 2,8-Millionen-Einwohner-Staat seinen gesamten Bedarf über ein Flüssigerdgas-Terminal in der Ostsee.

Die Bundesrepublik braucht laut Wirtschaftsministerium hingegen wohl noch mindestens bis zum Sommer 2024, um bei dem Rohstoff weitgehend unabhängig von Moskau zu werden. Berichte über Gräueltaten russischer Truppen an der ukrainischen Bevölkerung haben die Debatte über einen sofortigen Abnahmestopp nun aber wieder aufleben lassen. In einem bislang einmaligen Rechtsakt hat Deutschland zudem die Kontrolle über Gazprom Germania übernommen - hier hat jetzt vorübergehend die Bundesnetzagentur das Sagen. Die Bundesregierung will damit die Versorgungssicherheit gewährleisten. Ein Überblick:

Wäre ein Lieferstopp von Gas oder Öl durchzuhalten?

Vor allem in der gashungrigen Chemie- und Pharmabranche, aber auch in der Stahl-, Keramik- und Glasindustrie sind die Sorgen vor einem plötzlichen Ausbleiben russischer Energie groß. „Ein kurzfristiger und unbefristeter Lieferstopp hätte spätestens im Herbst massive negative Auswirkungen nicht nur auf die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern über ihre Funktion in den Wertschöpfungsketten auf das gesamte Produktionsnetzwerk des Industrielandes Deutschland“, sagte jüngst Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie. Während Öl teils aus anderen Regionen beziehbar sei, gebe es bei Gas keinen kurzfristigen Ersatz.

Wie abhängig ist Deutschland bisher noch von russischer Energie?

Hochgradig. 2021 bezog die Bundesrepublik laut Daten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe über 50 Prozent ihres Erdgasbedarfs aus Russland. An den Öleinfuhren hatte Russland einen Anteil von 34 Prozent, bis zum Sommer werden dem Wirtschaftsministerium zufolge die Importe jedoch voraussichtlich halbiert sein. Bei der Kohle ist Russland für Deutschland Lieferland Nummer eins: 2020 kamen 45 Prozent der eingeführten Hartkohle und Hartkohleprodukte wie Briketts oder Koks dorther, 2021 erhöhte sich der Anteil nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf 57 Prozent.

Das Ministerium erklärte, beim Gas sei inzwischen der Anteil russischer Lieferungen auf gut 40 Prozent gesunken. Bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, weitgehend unabhängig von der dominanten Quelle zu werden. Das hänge aber vom Tempo des Ausbaus erneuerbarer Energien und vom Umfang der erzielten Energieeinsparungen ab.

Wie schätzen Ökonomen die Risiken eines Embargos ein?

Die Konsequenzen wären erheblich, ihr Ausmaß ist indes umstritten. Volkswirte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung etwa rechnen bei einem Lieferstopp mit größeren Schäden als von vielen Kollegen angenommen. Im schlimmsten Szenario, in dem die Energiekosten infolge eines Embargos rasant steigen, ergebe sich für das Jahr 2022 ein „Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um mehr als 6 Prozent“, hieß es in einer Sonderanalyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Stiftung. Das wäre ein größerer Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Leistung als im Corona-Krisenjahr 2020.

Sicher ist: Ein Energie-Embargo würde die Lage auf den Kopf stellen. „Wenn es dazu kommen würde, ist es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Wirtschaft und wahrscheinlich auch die europäische Wirtschaft in eine Rezession verfällt mit langfristigen Folgen“, sagte der Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing, am Montag. Eine empfindliche Eintrübung wäre nach seiner Einschätzung kaum zu vermeiden.

Die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm glaubt hingegen, dass ein Embargo ein probates Mittel sein könnte, um Sicherheit in Europa herzustellen und zu stabilisieren - auch wenn dies einen ökonomischen Einbruch bedeute. Entscheidend sei, ob man diese Gefahr eindämmen könne, indem man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Einnahmen aus dem Energiegeschäft entziehe. „Die Frage muss sein, ob ein Energie-Embargo oder andere Maßnahmen, die die Zahlungen an das Regime Putin reduzieren, sicherheitspolitisch geboten sind und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, den Konflikt einzudämmen.“

Die Bundesregierung lehnt ein Embargo bisher ab. Kanzler Olaf Scholz hatte mehrfach deutlich gemacht, dass aus Sicht Berlins in einem solchen Fall ganze Industriezweige in Deutschland bedroht seien.

Wie viel Erdgas enthalten die Speicher aktuell noch?

Schon vor dem Kriegsbeginn waren die Füllstände hierzulande deutlich niedriger als in den Vorjahren. Den letzten aktuellen Gesamtwert für Deutschland gab die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe zum Samstag (2. April) mit knapp 26,5 Prozent an. Zudem wird täglich mehr Energie entnommen (529 Gigawattstunden) als neu eingespeichert (486 GWh), und das weit unter den technisch möglichen Kapazitäten.

Auffällig dabei: Für die bisher zu Gazprom gehörenden Anlagen werden noch weit geringere Stände als im Bundesschnitt gemeldet. So war der größte deutsche Speicher im niedersächsischen Rehden den Angaben zufolge am Wochenende mit nur 0,5 Prozent Auslastung fast leer. Der Speicher im ostfriesischen Jemgum war demnach zuletzt zu 15,8 Prozent gefüllt.

Kann eine höhere Eigenförderung von Gas die Lage entspannen?

Die Sorge um die Stabilität der Gaslieferungen aus Russland und die Überlegungen zu einem Importstopp von europäischer Seite fachten auch die Debatte über die Rolle der deutschen Inlandsproduktion wieder an. Jahrelang war die Eigenförderung der Bundesrepublik zurückgegangen - auch weil konventionelle Lagerstätten zusehends erschöpft sind und es gleichzeitig Widerstand gegen die alternative Fracking-Methode gab.

Heimisches Gas deckt den Verbrauch bestenfalls zu etwa 5 Prozent ab. Der Chef des Branchenverbands BVEG, Ludwig Möhring, fordert, dies zumindest als zusätzliche Stütze zu sehen: „Unser Ziel ist es, die Produktion auf dem aktuellen Niveau zu halten und idealerweise sogar leicht auszubauen. Dieser Wert an Versorgungssicherheit muss erkannt und gehoben werden.“ Seit dem Angriff auf die Ukraine sei nichts mehr wie zuvor, erklärte er. „Die Versorgungsstrukturen sind erschüttert.“

Was hat Deutschland bisher getan, um die Abhängigkeit zu reduzieren?

Die Bundesregierung hat per Anordnung die Aufsicht über bislang von Russland geführte Teile der deutschen Gasversorgung übernommen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck setzte die Bundesnetzagentur vorübergehend als Treuhänderin für die deutsche Tochter des russischen Staatskonzerns Gazprom ein. Habeck begründete dies mit unklaren Rechtsverhältnissen und einem Verstoß gegen Meldevorschriften. Ziel sei es, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gazprom ist nach wie vor der größte Gaslieferant Deutschlands.

Zuvor war der Wirtschaftsminister in Norwegen und Katar unterwegs, um Verträge für zusätzliches oder verflüssigtes Erdgas (LNG) auszuloten. Auch mit Kanada sollen Gespräche laufen. LNG ist wegen der CO2-Last durch Transport und Verbrennung klimapolitisch umstritten, gilt wegen des Zeitdrucks beim Verzicht auf russisches Pipeline-Gas aber als wichtige Alternative. In Wilhelmshaven, Stade und Brunsbüttel sollen möglichst rasch Import-Terminals für den per Schiff angelieferten Rohstoff entstehen - zunächst womöglich als schwimmende Anlagen, ehe die vollständigen Terminals fertig werden.

Aus Sicht von Niedersachsens Energieminister Olaf Lies müssen die Arbeiten notfalls vor der Baugenehmigung starten - bei leichteren Ausschreibungen. Wilhelmshaven wolle „möglichst zum Jahreswechsel einen ersten Import-Hub realisieren“, sagte er. „Hier müssen wir als Staat, wenn nötig, ins Risiko gehen. Der volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Preis, den wir zahlen, wenn wir uns nicht schnellstmöglich unabhängig machen, ist ungleich höher.“

© dpa-infocom, dpa:220405-99-799336/2

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