Kiew (dpa)
Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Der Angriffskrieg der Russen geht in die achte Woche. Die ukrainische Regierung berichtet über großer Zerstörung und vom russischem Einsatz von Überschallbombern. Die Entwicklungen im Überblick.
Gut sieben Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine droht das russische Militär, seine Angriffe auf die Hauptstadt Kiew wieder zu verstärken.
Dies gelte für den Fall, dass ukrainische Truppen Attacken in Russland selbst durchführen, warnte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow.
Selenskyj: 2500 bis 3000 getötete ukrainische Soldaten
Nach Angaben aus Kiew wurden bislang 2500 bis 3000 ukrainische Soldaten getötet. Das sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj laut Übersetzung dem US-Fernsehsender CNN in einem Interview, das am Freitag in ersten Auszügen verbreitet wurde. Selenskyj berichtete zudem von etwa 10.000 verletzten Soldaten auf ukrainischer Seite. Es sei schwer zu sagen, wie viele davon überleben werden.
Ukraine: Große Zerstörung in Sjewjerodonezk
Selenskyj nannte zum Vergleich ukrainische Zahlen, wonach auf der Seite Russlands bereits 20.000 Soldaten getötet worden seien. Westliche Schätzungen gehen von mehreren Tausend Toten auf russischer Seite aus. Moskau sprach zuletzt von etwa 1350 getöteten Soldaten in den eigenen Reihen.
Durch den russischen Angriffskrieg hat nach ukrainischen Angaben die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk großen Schaden genommen. Laut dem Chef der Militärverwaltung der Stadt, Olexandr Strjuk, ist die Stadt zu rund 70 Prozent zerstört. Die wichtigsten Straßen seien zudem erheblich beschädigt und auch die Wasserversorgung sei bis zur Durchführung von Reparaturarbeiten eingestellt, sagte Strjuk am Freitag im ukrainischen Einheitsfernsehen.
Beschuss von Charwik
Bei einem Beschuss des Industriebezirks der ostukrainischen Metropole Charkiw sollen ukrainischen Angaben zufolge mindestens zehn Menschen getötet worden sein. Unter den Opfern sei ein sieben Monate altes Baby, teilte die Staatsanwaltschaft des Gebietes Charkiw am Freitagabend auf Facebook mit. Mindestens 35 Menschen seien verletzt worden.
Mehrere Wohnhäuser des Bezirks am östlichen Stadtrand seien zudem beschädigt oder zerstört worden, hieß es weiter. Zuvor hatten die Behörden die Bevölkerung dazu aufgerufen, nur bei absoluter Notwendigkeit auf die Straßen zu gehen. Unabhängig überprüft werden konnten die Angaben zunächst nicht.
Mariupol mit Überschallbombern bombardiert?
Russland soll nach Angaben der ukrainischen Regierung auch Überschallbomber im Einsatz haben. Aus Langstreckenbombern des Typs Tu-22M3 seien Bomben auf Mariupol abgeworfen worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Olexander Motusjanyk, am Freitag in Kiew.
Motusjanyk betonte, dass Mariupol von russischen Truppen nicht vollständig eingenommen worden sei. Es gebe heftige Kämpfe, unter anderem im Hafengebiet und um das Stahlwerk „Iljitsch“. Russland behauptet seit Tagen, den Hafen komplett zu kontrollieren. Nach Angaben aus Moskau haben die russischen Truppen inzwischen auch das Stahlwerk unter Kontrolle.
Verlust des Flaggschiffs „Moskwa“
Als symbolträchtige Schlappe des Kremls gilt der Verlust des Flaggschiffs der Schwarzmeerflotte, des Raketenkreuzers „Moskwa“: Das Kriegsschiff ist im Schwarzen Meer gesunken, wie auch Moskau nach längerem Hin und Her bestätigte. Die Ukraine reklamiert, es versenkt zu haben - was Russland bestreitet. Moskau erklärte, an Bord sei nach einem Brand zunächst Munition explodiert. Dann sei das angeschlagene und evakuierte Schiff abgeschleppt worden, jedoch während eines Sturms untergegangen.
CIA warnt vor Atomwaffen-Einsatz
Angesichts weiterer militärischer Rückschlage für Russland in den vergangenen Wochen warnte der US-Auslandsgeheimdienst CIA, der mögliche Einsatz taktischer Atombomben dürfe nicht auf die leichte Schulter genommen werden. CIA-Chef Bill Burns sprach von einer „möglichen Verzweiflung“ des Kremlchefs Wladimir Putin. Unter taktischen Atomwaffen versteht man solche mit geringerem Wirkungskreis und weniger Sprengkraft als etwa strategische Atomwaffen, die über einen Kontinent hinaus eingesetzt werden können.
Russland berichtet über Angriff auf Raketenfabrik bei Kiew
Russlands Armee hat eigenen Angaben zufolge eine Raketenfabrik unweit der ukrainischen Hauptstadt Kiew angegriffen. Auf die Fabrik „Wisar“, knapp fünf Kilometer südwestlich des Stadtrands, seien in der Nacht zum Freitag Raketen des Typs Kalibr abgefeuert worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung. Medienberichten zufolge waren in der Nacht in Kiew aber mehrere heftige Explosionen zu hören. Die Fabrik „Wisar“ soll Raketen für das Flugabwehrsystem S-300 hergestellt haben.
Ukraine: Sieben Tote nach Beschuss von Flüchtlingsbussen
Mehr als 2800 Menschen sind nach ukrainischen Angaben aus besonders umkämpften Gebieten im Osten des Landes herausgebracht worden. Etwa 2500 Flüchtlinge seien am Freitag in der Stadt Saporischschja im Süden angekommen, darunter 363 aus der schwer getroffenen Hafenstadt Mariupol, schrieb Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk auf Telegram.
Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft des Gebiets Charkiw mitgeteilt, dass beim Beschuss von Flüchtlingsbussen sieben Menschen getötet worden seien.
Geheimdienst bestreitet Angriffe auf russisches Territorium
Der ukrainische Geheimdienst SBU bestreitet den Beschuss von russischem Territorium. Diese Vorwürfe seien falsch und der Zwischenfall eine geplante russische Provokation, teilt der Geheimdienst auf seiner Facebook-Seite mit. Moskau hatte Kiew am Vortag beschuldigt, beim Beschuss einer Ortschaft im westrussischen Gebiet Brjansk nahe der ukrainischen Grenze sieben Zivilisten verletzt zu haben - darunter ein Kleinkind. Die ukrainischen Truppen hätten mit Hubschraubern angegriffen.
Der ukrainische Geheimdienst veröffentlichte nun Tonaufnahmen, die beweisen sollen, dass die russischen Anschuldigungen haltlos seien. Die Echtheit des Fragments ließ sich zunächst nicht überprüfen.
Russland hatte in den vergangenen Wochen mehrfach vermeintliche ukrainische Angriffe auf grenznahe russische Gebiete beklagt und zuletzt damit gedroht, darauf mit einer verstärkten Bombardierung der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu reagieren.
Kiew kündigt neun Fluchtkorridore an
Die Ukraine hat neun Fluchtkorridore im Osten des Landes angekündigt. In den Gebieten Donezk und Saporischschja seien mit den russischen Truppen Routen von Mariupol, Berdjansk, Tokmak und Enerhodar nach Saporischschja vereinbart worden, teilte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Freitag bei Telegram mit.
Dazu gebe es Absprachen für Fluchtrouten im Luhansker Gebiet. Zivilisten aus Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Popasna, Hirske und Rubischne können bei eingehaltener Waffenruhe nach Bachmut im benachbarten Donezker Gebiet gelangen. Zu den Transportmitteln machte Wereschtschuk keine Angaben. Die ukrainische Eisenbahn hat einen Evakuierungszug aus Pokrowsk im Donezker Gebiet nach Tschop an der ungarischen Grenze angekündigt.
Lettlands Präsident: „Ich würde es Völkermord nennen“
Nach seiner Rückkehr aus der Ukraine hat Lettlands Staatspräsident Egils Levits das Vorgehen der russischen Truppen dort angeprangert. Nach allem, was er mit eigenen Augen gesehen habe, seien aus seiner Sicht alle Anzeichen von Völkermord gegeben. „Ich würde es Völkermord nennen“, sagte Levits am Donnerstagabend in Riga. Rechtlich könnte das von einem der internationalen Gerichte festgestellt werden, sagte der frühere Richter am Europäischen Gerichtshof.
Levits war am Dienstagabend zusammen mit seinen Amtskollegen aus Polen, Estland und Lettland per Zug in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist.
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