Frankfurt/Main (dpa)
Ukrainische Holocaust-Überlebende flüchten nach Deutschland
Hochbetagte Holocaust-Überlebende aus der Ukraine finden Aufnahme in Deutschland. Ein Netzwerk jüdischer Organisationen ermöglichte die Evakuierung.
Vor mehr als 80 Jahren floh Halyna Abramowa schon einmal vor dem Krieg. Damals wurde die jüdische Familie aus der Ukraine nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ins zentralasiatische Kirgistan evakuiert.
Nie hätte die 83-jährige geglaubt, dass sich die Geschichte wiederholen könnte und sie nach einem Angriffskrieg erneut zur Flucht gezwungen sei - diesmal nach Deutschland. Die Claims Conference, die die Ansprüche von Holocaust-Opfern gegen Deutschland durchsetzt, hat in den vergangenen Tagen und Wochen damit begonnen, die hochbetagten Überlebenden aus der Ukraine in Sicherheit zu bringen, mit Krankentransporten in verschiedene deutsche Städte.
Abramova und die ebenfalls 83 Jahre alten Tetjana Schuraljowa und Laryssa Dsujenko kamen nach langer Fahrt im Krankenwagen nach Frankfurt und haben hier zunächst im christlich-jüdischen Altersheim der Henry und Emma Budge-Stiftung Aufnahme gefunden. Andere Überlebende fanden etwa in München Zuflucht.
„Ich hatte den Berichten nicht glauben wollen, dass Russland die Ukraine angreift“, sagt Abramowa. „Ich dachte, die würden sich die Separatistenrepubliken im Donbass einverleiben, so wie die Krim. Aber dass Bomben auf Kiew fallen würden - das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.“
Die 83-jährige ist Invalidin, leidet unter schwerer Diabetes und kann mit ihren geschwollenen Beinen nur mühsam gehen. Während der Luftangriffe war der Weg in die Metro-Schächte aus dem achten Geschoss ihres Wohnblocks in Kiew nicht machbar. „Ich hatte schreckliche Angst, aber ich konnte nicht aus der Wohnung heraus. Ich konnte nur beten, dass wir nicht getroffen werden“, sagt sie.
Ähnlich ging es Laryssa Dsujenko. „Ich lag im Bett und zog mir das Kissen über den Kopf“, erzählt sie. „Ich konnte nichts tun außer warten, dass es vorbei war.“ Tetjana Schuraljowa, eine ehemalige Ärztin, schüttelt traurig den Kopf. „Ich hatte gedacht, etwas Schlimmeres als die Corona-Pandemie erleben wir nicht mehr in unserem Leben. Aber dann kam der Krieg.“
Rund 30 Stunden waren sie unterwegs, zum Teil auf Feldwegen, immer in der Sorge vor Bombardements. „Als wir in Przemysl jenseits der ukrainisch-polnischen Grenze waren, konnte ich durchatmen und mich sicher fühlen“, sagt Schuraljowa.
Erinnerungen an den Krieg
Erinnerungen an den ersten Krieg, den sie als Kinder erlebten, und die Gefahr, in der sie als jüdische Menschen waren, haben die drei Frauen nicht, doch der aktuelle Krieg hat ihr ganzes Leben erschüttert. Für Halyna Abramowa steht fest, dass sie nicht mehr nach Kiew zurückkehren will. Ihre Tochter Irina lebt in Deutschland, so hat sie immerhin Angehörige hier. Und angesichts der Bilder der Kriegszerstörungen fragt sie sich, ob es überhaupt noch eine Wohnung gibt, in die sie zurückkehren kann.
Laryssa Dsujenko hingegen will so schnell wie möglich wieder zurück nach Hause, wenn es dort sicher ist. Sie sorgt sich um ihre jetzt im westukrainischen Lviv lebende Tochter und ganz besonders um ihren Enkel, der nun wohl auch in den Krieg muss. Die Unsicherheit um das Schicksal der Angehörigen quält, erzählt sie und umklammert ihren Krückstock. „Morgens schicke ich immer eine SMS: Lebt ihr noch? Und ich kann ruhiger atmen, wenn die Antwort kommt, ja, alle leben.“
Hilfe dringend nötig
Die Claims Conference will auch weiterhin Holocaust-Überlebende nach Deutschland in Sicherheit vor dem Krieg bringen. Bisher konnten knapp 70 Menschen nach Deutschland gebracht werden. Das gelinge derzeit nur in einer gewaltigen gemeinsamen Anstrengung von Claims Conference, Joint Distribution Committee, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege und Ressorts der Bundesregierung, sagt Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland. Die Bedingungen, unter denen die Helfer arbeiten, sind schwierig. Immer wieder müssen Transporte kehrt machen, weil die Weiterfahrt zu gefährlich wäre.
Die Dringlichkeit der Hilfe gerade für die alten, häufig schwachen und kranken Holocaust-Überlebenden in der Ukraine sei hoch, betont auch Pini Miretski von der jüdischen Hilfsorganisation JDC, die die Evakuierungen ebenfalls unterstützt und vor Ort Sozialarbeit leistet. „Zehntausende alter Menschen leben in ständiger Angst.“
Die Erfahrung von Flucht und das Trauma des Krieges prägen nun auch das bereits begonnene Pessach-Fest, einen der wichtigsten jüdischen Feiertage, an dem an die Flucht aus Ägypten erinnert wird. In diesem Jahr unterstützt die Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) Pessach-Sederfeiern vor allem in Polen, Rumänien und Moldawien, wo besonders viele Flüchtlinge aus der Ukraine untergekommen sind.
„Wer will, komme und feiere Pessach; wer braucht, komme und esse“, zitierte der polnische Oberrabbiner Michael Schudrich aus der Haggada, dem religiösen Buch zur Pessach-Feie. Mit den Hilfsaktionen solle sichergestellt werden, „dass dies für die Tausenden von gestrandeten und vertriebenen jüdischen Flüchtlinge, die angesichts des Krieges ihre Heimat verlassen haben, Wirklichkeit wird. Jetzt können sie zusammen mit dem Rest des jüdischen Volkes das Pessach-Fest ohne Gefahr und Hunger feiern.“
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