Best of 2022 Behinderter verklagt Werkstatt – mit Erfolg

| | 10.06.2022 12:03 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind wichtige Zulieferer für die Industrie. Foto: Schackow/dpa
Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind wichtige Zulieferer für die Industrie. Foto: Schackow/dpa
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Wegen der Krise der Firma Enercon haben die Werkstätten für behinderte Menschen Aurich-Wittmund 2020 den Lohn gekürzt. Ein Beschäftigter ging vor Gericht. Und ist stolz auf das Ergebnis.

Der Mann, um den es in diesem Text geht, hat mich sehr beeindruckt. Er hatte als Mensch mit Behinderung den Mut, seinen Arbeitgeber zu verklagen. Die Werkstätten für behinderte Menschen Aurich-Wittmund hatten ihm und anderen zu Unrecht den Lohn gekürzt. Er hat Rückgrat bewiesen – und ist belohnt worden.

Aurich/Wittmund - Auch als Mensch mit Behinderung muss man sich nicht alles gefallen lassen. Einem Beschäftigten der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) Aurich-Wittmund ist es wichtig, diese Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen. Der 49-Jährige, der ungenannt bleiben möchte, hat vor dem Arbeitsgericht Wilhelmshaven einen Teilerfolg erzielt. Die WfbM müssen die Kürzung seines Lohnes zur Hälfte zurücknehmen.

Im Februar 2020 hatte das Unternehmen wegen der Krise beim Auricher Windenergieanlagenhersteller Enercon den leistungs- und qualifizierungsabhängigen Teil der Entgelte für die Beschäftigten um 20 Prozent gekürzt. Für den Kläger bedeutete das Einbußen von 160 Euro monatlich.

Nachzahlung über 2160 Euro

Das war in dieser Form nicht rechtens, wie das Arbeitsgericht bereits im August vergangenen Jahres befand. Die WfbM müssen dem Mann 80 Euro mehr pro Monat zahlen – rückwirkend seit Februar 2020 und auch weiterhin. Daraus ergibt sich für den Kläger eine Nachzahlung von insgesamt 2160 Euro brutto (27 Monate).

Das Unternehmen hatte zunächst Berufung eingelegt, diese aber zurückgenommen. Mittlerweile ist das Urteil rechtskräftig. „Ich möchte, dass andere Werkstätten das mitbekommen“, sagt der 49-Jährige, der an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet und zu 70 Prozent schwerbehindert ist. Die WfbM sind ein Sozialunternehmen mit Hauptsitz in Schirum und Standorten in Aurich, Haxtum, Wiesmoor und Burhafe. Sie beschäftigen knapp 800 Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung.

Hauptauftraggeber ist Enercon

Diese fertigen unter anderem Schaltanlagen und Kabelstränge für Industriekunden. Hauptauftraggeber ist Enercon. Die Präzisionsarbeit mit millimeterdünnen Kabeln erfordert viel Geschick. Die Mitarbeiter fertigen Platinen, bearbeiten Bleche und Gehäuse für den Windenergieanlagenbau. Außerdem werden Schaltschränke demontiert und nach wiederverwertbaren und schrottreifen Teilen sortiert. Die WfbM sind gesetzlich verpflichtet, mindestens 70 Prozent des erwirtschafteten Arbeitsergebnisses als Entgelt an die Beschäftigten auszuschütten.

Im November 2019 kündigte Enercon an, rund 3000 Stellen zu streichen, davon 1500 in Aurich. Als Grund wurde der Niedergang der Windindustrie in Deutschland genannt. Der Ausbau der Windkraft an Land war zu diesem Zeitpunkt fast zum Erliegen gekommen. Logisch, dass das auch Auswirkungen auf Zulieferer wie die WfbM hatte. Doch die Kürzung der Bezahlung sei im konkreten Fall zum Teil willkürlich erfolgt, heißt es im Urteil des Arbeitsgerichts.

Auch andere bekommen Geld zurück

Zwar habe das Unternehmen das Recht, auf die wirtschaftliche Schieflage mit Lohnkürzungen zu reagieren. Allerdings stünden dem 49-Jährigen weiterhin Zahlungen für besondere Leistungen zu. „Der Kläger hat als wichtiger Leistungsträger in der Werkstatt allein durch seine Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Umsicht ein erheblich überdurchschnittliches Ergebnis erreicht“, heißt es in dem Urteil. An dieser Qualität ändere sich trotz der prekären Wirtschaftssituation von Enercon nichts. Daher müsse der durch die besonderen Leistungen erzielte Verdienst dem Kläger erhalten bleiben.

Der 49-Jährige ist stolz auf seinen juristischen Erfolg. Er habe Nachzahlungen auch für die anderen Beschäftigten erstritten, behauptet der Mann. „Sie bekommen Geld zurück“, heißt es in einer Information der Geschäftsführung an die Beschäftigten von Ende April. „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass ein Teil der Lohn-Kürzung aus dem Jahr 2020 nachgezahlt werden kann.“

Wie vor den Kopf gestoßen

Den Zusammenhang mit der Klage weist WfbM-Geschäftsführer Jörg-Detlef Gauger allerdings zurück. Man habe die Zahlungen angepasst, „weil das Arbeitsergebnis das hergibt“. Anfang 2020 hingegen sei die Ungewissheit groß gewesen. „Prognosen gab es nicht.“ Die wirtschaftliche Situation sei bedrohlich gewesen. „Da mussten wir reagieren.“ Obwohl er mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist, möchte der 49-Jährige die WfbM nicht schlechtmachen, wie er betont. Die Arbeit mache ihm nach wie vor Freude, sagt der gelernte Telekommunikationselektroniker. Als damals „von jetzt auf gleich“ der Lohn gekürzt worden sei, habe er sich jedoch „wie vor den Kopf gestoßen“ gefühlt. „Wenn’s hart auf hart kommt, wird so mit uns umgegangen.“ Das habe er sich nicht gefallen lassen wollen. Der Mann wirkt erschöpft. „Ich hab ‚ne ganze Menge erreicht. Aber das hat sehr viel Kraft gekostet.“

Sind Werkstätten für behinderte Menschen überhaupt noch zeitgemäß? Daran gibt es in der Politik Zweifel. Das Europaparlament fordert einen gleichberechtigten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt auch für Menschen mit Behinderung. Geschützte Werkstätten dürften lediglich eine Option für einen befristeten Zeitraum sein.

„Für die Inklusion hinderlich“

Die Grünen-Europaabgeordnete Katrin Langensiepen (Hannover) fordert einen konkreten Ausstiegsplan aus der Beschäftigung in den Werkstätten. Sie seien für die Inklusion hinderlich. Die Beschäftigten verdienten dort nur ein Taschengeld. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie durch Sozialleistungen wie Grundsicherung oder Erwerbsminderungsrente.

Der 49-Jährige macht sich keine Hoffnung, jemals wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen – trotz überdurchschnittlicher Leistungen. „Der Zug ist abgefahren.“

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