Best of 2022 Das Leben ist zur eigenen Hölle geworden – und man kommt nicht raus

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Von Vera Vogt
| 25.11.2022 18:02 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Die jährlich stattfindenden Orange Days sollen auf die Gewalt an Frauen und Mädchen aufmerksam machen. Grafik: Fischer
Die jährlich stattfindenden Orange Days sollen auf die Gewalt an Frauen und Mädchen aufmerksam machen. Grafik: Fischer
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Die Orange Days sollen ein Zeichen gegen Gewalt setzen. Starke Menschen haben mit der Redaktion geteilt, was sie erleben mussten. Und wie sie ihre toxischen Beziehungen überlebten.

Dieser Artikel meiner Kollegin Vera Vogt hat mich in diesem Jahr besonders bewegt. Anlässlich der Orange Days, die auf Gewalt an Frauen und Mädchen aufmerksam machen, hat sie sich mit Frauen unterhalten, die in ihrer Beziehung Furchtbares erlebt haben. Unser Mediengestalter Jan Fischer hat die Zahlen zur Gewalt an Frauen und Männern zudem grafisch aufbereitet. Ein sehr lesenswerter Artikel, wie ich, Jonas Bothe, finde.

Bunde - Sie ist zum ersten Mal in der Gruppe dabei. Sie beginnt gleich zu erzählen. Der Moment, als sie nach Hause kam und die Kinder nicht mit ihr sprechen wollten, hat sich eingebrannt. Die Reha hatte ihr Partner wohl genutzt, um sie gegen sie aufzubringen, meint sie. Sie spricht gefasst über das, was sie erlebte. Ihr Mann war kalt. Abweisend. Brutal. Keiner half ihr, nach außen ließ er es aussehen, als sei sie verrückt, sagt sie. Dann habe er die Kinder genommen. Sie spricht lange. Alle anderen schweigen, leise weint eine andere Teilnehmerin. Immer wieder stimmen die anderen Frauen – die am Tisch im Familienzentrum in Bunde sitzen – zu.

Gewalt ist nicht immer körperlich. Grafik: Fischer
Gewalt ist nicht immer körperlich. Grafik: Fischer

Sie wissen, was die Frau durchmachte, auch wenn sie alle unterschiedliche Leben führen, finden sich die Mechanismen einer sogenannten „toxischen Beziehung“ bei ihnen allen wieder. Die jährlich stattfindenden „Orange Days“ sollen auf Gewalt an Frauen und Mädchen aufmerksam machen. Dieses Jahr steht die Prävention häuslicher Gewalt im Mittelpunkt. Bitter nötig. Denn zu viele Menschen müssen das erleben, was die Teilnehmerin der Bunder Selbsthilfegruppe „Toxische Beziehungen überwinden für Ostfriesland“ erzählt. Die Gruppe trifft sich abwechselnd in Präsenz und über das Internet. Mary-Ann Müller-Pirzkall leitet sie. Sie ist auch Mit-Administratorin einer großen Facebook-Gruppe, in der sich mehr als 8700 Menschen austauschen. Und sie hat selbst eine toxische Beziehung hinter sich. „Überlebende nenne ich uns“, sagt sie. Sie habe sich lang selbst die Schuld gegeben, dass sie bei ihrem Partner geblieben war, auch wenn es eine ungesunde Beziehung war. „Ich bin immer wieder zurückgegangen zu ihm“, sagt sie.

Auch die Teilnehmenden der Gruppe leiden teilweise noch lang nach der Beziehung. Grafik: Fischer
Auch die Teilnehmenden der Gruppe leiden teilweise noch lang nach der Beziehung. Grafik: Fischer

Es werden immer mehr Mitglieder

Sie sei zu abhängig gewesen – deshalb dauere es, bis man loskomme und bis man alles überwunden habe. „Außerdem hatte ich durch die Beziehung fast alle Freundschaften und den Kontakt zur Familie nahezu vollständig verloren“, sagt sie. Das hätten toxische Beziehungen gemein. Isolation, Angst vor der Wut des Gegenübers, Laufen auf Eierschalen, Erniedrigung und Gewalt. „Das ist ein Problem in allen Schichten. Es betrifft Hausfrauen und Ärztinnen. Wir haben 17 Teilnehmende Tendenz steigend, unter ihnen sind auch zwei Männer“, erklärt sie. Die Flyer der Gruppe liegen bei Frauenhäusern und anderen Einrichtungen aus. Es gibt solche Gruppen deutschlandweit. Dabei suchen nicht nur Personen in toxischen Partnerschaften Hilfe. „Auch bei der Arbeit und die Beziehung zu den Eltern kann toxisch sein“, sagt sie. Es sei wichtig, zu verstehen, dass man mit seinen Erlebnissen nicht allein ist. „Und ganz wichtig ist, zu wissen, dass man herauskommen kann.“

Prävention Häuslicher Gewalt steht bei den Orange Days 2022 im Mittelpunkt. Grafik: Fischer
Prävention Häuslicher Gewalt steht bei den Orange Days 2022 im Mittelpunkt. Grafik: Fischer

Eine Teilnehmerin der Gruppe steckt noch in ihrer Beziehung. „Ich bin nur noch ein Wurm. Ich kann das Haus kaum noch verlassen. Nach außen ist er der Frauenversteher, der gute Mitarbeiter. Und ich lebe in Angst davor, dass er von der Arbeit wiederkommt. Ich bin in dieser Gruppe, weil ich die Kraft finden will, zu gehen. Ich kann nicht mehr“, sagt sie. „Du schaffst das. Es ist so stark, dass du hier bist“, sagen die anderen fast unisono. Dass der Partner das Selbstwertgefühl zerstöre, ist ebenso Teil vieler toxischer Beziehungen, erklärt Gruppenleiterin Müller-Pirzkall. „Man versucht, alles zu tun, damit der andere nicht wütend wird. Aber auch wenn das Essen schmeckt, kam es eben zu spät. Es wird das Haar in der Suppe gesucht und dann fliegt der Teller an die Wand“, erklärt eine andere. Es seien die gleichen Situationen, die alle erlebten. „Wie Schablonen.“ Und doch haben es die meisten aus den Beziehungen herausgeschafft.

Die Dunkelziffer ist hoch. Grafik: Fischer
Die Dunkelziffer ist hoch. Grafik: Fischer

Es geht auch um Schutz

Müller-Pirzkall sehe den Fortschritt, den viele Mitglieder Woche für Woche machten. „Und das macht mich so stolz“, sagt sie. Die Methoden zu verstehen, zu bemerken, dass man nicht Schuld an dem Missbrauch ist, und seine Kraft wiederzufinden, darum gehe es in der Gruppe. „Aber wir tauschen auch die Nummern aus. Nachdem man eine solche Beziehung beendet, beginnt nicht selten eine Phase der Wut und des Stalkings. Wir müssen aufeinander aufpassen. Viele brauchen ein ganz neues Netzwerk“, sagt Müller-Pirzkall. Es gelte mit allen Mitteln zu verhindern, dass den Überlebenden etwas zustoße. „Ich empfehle allen die No-Stalk-App des Weißen Rings.“ Auch über eine Whatsapp-Gruppe sind die Teilnehmenden verbunden. Aber vor allem sind sie im Geiste verbunden.

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Hilfe bei Gewalt gegen Frauen
23.11.2022

„Es ist so wichtig, hier Leute zu haben, die einen verstehen, ohne dass man sich lange erklären muss“, sagt eine Teilnehmerin, die online zugeschaltet ist. „Wie oft man hört: ‚Dann hättest du halt gehen müssen‘. Es kotzt mich an“, sagt sie. „Sie fragen, warum man die Demütigungen ertragen hat. Ich weiß es nicht. Ich habe mir so lang die Schuld gegeben, manchmal tu ich das wohl noch immer“, sagt sie. „Tu das nicht“, schallt es aus mehreren Mündern zurück. Man glaube in der Beziehung irgendwann, dass man es verdient habe, so behandelt zu werden. „Das ist aber nicht so und wir müssen über diese Themen reden. Bei mir ist die Trennung Jahre her und manchmal schlafe ich dennoch in Klamotten und mit Licht an. Es gibt schwere Phasen, Rückschläge. Aber ich habe es geschafft, mich zu trennen. Das Thema muss an die Öffentlichkeit und enttabuisiert werden“, sagt sie. „Die Betroffenen müssen wissen, dass sie nicht allein sind und dass es solche Gruppen gibt.“

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