Tote Rehe im Wattenmeer Was lebt vom Tod? Forscher nehmen Kadaver in den Blick
Im Wattenmeer werden in nächster Zeit immer wieder tote Rehe ausgelegt. Um zu sehen, wer alles davon lebt. Es ist Teil eines bundesweiten Projekts, das schon jetzt erstaunliche Bilder liefert.
Küste/Wattenmeer - Im niedersächsischen Nationalpark Wattenmeer sind in diesen Monaten seltsame Arrangements zu sehen: tote Rehe und tote Seehunde, die Bäuche einer Kamera zugewandt. Dazu noch Insektenfallen am Kadaver. In den Salzwiesen der Leybucht und auf der Insel Mellum liegen die Tiere schon. Die Arrangements sind sorgfältig ausgerichtet, denn die Forscher wollen nichts verpassen. Die Frage lautet: Wer zehrt alles vom toten Tier? „Vom Bakterium bis zum Top-Prädator – wir können alles aufnehmen“, sagt Christian von Hörmann. Der Zoologe von der Uni Würzburg ist Initiator des Projekts, an dem sich alle 16 deutschen Nationalparke beteiligen.
Offizieller Name des Projekts: „Belassen von Wildtierkadavern in der Landschaft – Erprobung am Beispiel der Nationalparke“. Konkret werden aktiv tote Tiere ausgelegt, um anschließend zu untersuchen, welche Insekten- oder Pilzarten an den Wildtierkadavern gefunden werden können. Oder welche noch viel größeren Tiere. „Das klingt vielleicht komisch, denn gestorben wird natürlich schon immer“, räumt von Hörmann ein. Er findet aber: „Wir müssen das Ganze wieder natürlicher gestalten.“ Weg von aufgeräumten Landschaften und hin zu mehr liegengelassenen Kadavern.
Kadaver im Wattenmeer
Für das niedersächsische Wattenmeer ist die Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven an dem Projekt beteiligt. In einer Mitteilung schreibt sie, dass über einen Zeitraum von drei Jahren jährlich acht natürlich verendete oder bei Wildunfällen gestorbene Rehe auf den Flächen der Schutzgebiete ausgelegt würden. Bei der Beschaffung der toten Tiere arbeite man mit den regionalen Jägerschaften sowie der Seehundstation Norddeich zusammen. Rehe werden in allen Nationalparks ausgelegt, denn die kommen überall in Deutschland vor. Dazu kommt je nach Park und Region eine zweite Tierart, Muffelwild oder Rotwild etwa. Im Küstenfall sind es Seehunde, die entweder tot gefunden wurden oder in der Aufzuchtstation verendeten.
In einem wissenschaftlichen Ansatz, schreibt die Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven weiter, werden in den Salzwiesen oder Dünen Probeflächen eingerichtet. Dort werde wissenschaftlich erhoben, welche Tier-, Bakterien- oder Pilzarten am Kadaver zu finden seien. Große Aasfresser würden mittels Fotofallen, Insekten mittels sogenannter Barberfallen, Pilze und Bakterien mit Hilfe von Abstrichen erfasst und genetisch analysiert. Vier Orte sind vorgesehen: die Leybucht, die Inseln Mellum und Juist sowie der Jadebusen.
Das Ziel
Erstmal geht es um eine Art Bestandsaufnahme, quasi ein Monitoring der Beteiligten am Zersetzungsprozess von größeren toten Tieren. Laut von Hörmann ein weitgehend unerforschtes Terrain. Der eigentliche Kern der Unternehmung zielt aber auf etwas anderes ab: auf den Erhalt der Artenvielfalt. „Welche Arten haben wir überhaupt, weil wir die Kadaver haben“, formuliert es der Zoologe. Und was passiere, wenn die größeren Kadaver weg sind? Dann seien eben auch schnell ganze Arten weg. Der Grundsatz dahinter laute: Je mehr Arten zu einem Biosystem gehören, desto stabiler ist es auch.
Projekt „Zukunft Nordsee“
Dieser Beitrag ist Teil des Projekts „Zukunft Nordsee“ von Ostfriesen-Zeitung, General-Anzeiger, Borkumer Zeitung, Nordsee-Zeitung, Kreiszeitung Wesermarsch und Deutscher Presse-Agentur (DPA). In dieser Serie beschäftigen wir uns mit Themen, die für die gesamte Küstenregion relevant sind – zum Beispiel mit dem Klimawandel, erneuerbaren Energien, der Entwicklung der Wirtschaft und dem Tourismus. Weitere Beiträge dazu finden Sie hier.
Das auf fünf Jahre angesetzte Entwicklungs- und Erprobungsvorhaben wird vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert. Am Ende soll es so etwas wie Handlungsempfehlungen geben, wie viele Kadaver in bestimmten Gebieten wie etwa dem Wattenmeer oder dem Harz offen liegen bleiben sollten, um die Artenvielfalt zu erhalten oder vielleicht sogar zu fördern.
Erste Erfahrungen mit Käfern
Um das ganze Vorhaben besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in den Nationalpark Bayerischer Wald. Dort arbeitet von Hörmann als wissenschaftlicher Mitarbeiter und dort hat er sein Forschungsprojekt schon begonnen. Erste Untersuchungen zeigten, dass insgesamt 17 Wirbeltierarten, 92 Käfer-, 97 Fliegen- und Mückenarten, aber auch 1820 Bakterienarten und 3726 Pilzarten an und von dem toten Tier leben.
„Da sind auch sehr viele Arten dabei, die eigentlich schon als ausgestorben gelten“, so von Hörmann. Da sei zum Beispiel dieser Scheinstutzkäfer, den fast niemand kenne. Einer seiner Kollegen habe in 20 Berufsjahren weltweit gerade mal drei von diesen Käfern gefunden. „Und wir hatten sechs in unseren Becherfallen, weil wir genauer hinschauen“, sagt er.
Erste Erfahrungen mit Geiern
Optisch eindrucksvoller sind die ersten Erfahrungen mit Rehkadavern im Nationalpark Eifel. Am 6. Juni wurde der Kadaver ausgelegt und noch am selben Tag tauchten 21 Gänsegeier vor der Kamera auf und zerlegten das Reh. „Der Gänsegeier gilt seit 100 Jahren bei uns als ausgestorben“, sagt der Zoologe. Der Vogel brüte nicht in Deutschland, sondern fliege höchstens mal drüber weg. Es gebe eben keine Kadaver, von denen er leben könne.
Die Gänsegeier auf der Eifeler Fotofalle kamen demnach aus Spanien und Südfrankreich, das sei an den Ringen zu erkennen gewesen. Drei der Tiere seien beringt gewesen. Die Geier könnten bis zu 450 Kilometer am Tag fliegen, so von Hörmann. Wenn sie sich einmal satt gefressen hätten, könnten sie auch ohne weiteres drei Tage ohne Nahrungsaufnahme weiterfliegen. „Aber die finden eben nichts mehr und das heißt, sie machen sehr große Züge von ihren Kolonien aus und überfliegen auch mal Deutschland.“ Anfang Juni sei das wohl ein glückliches Zusammentreffen gewesen, dass das Reh eben ausgelegt worden war, als die Geier dort unterwegs waren. Für das Wattenmeer, sagt der Zoologe noch, erwarte er nun schon, dass sich dort auch mal der Seeadler am Kadaver blicken lasse.
Erste Erfahrungen im Wattenmeer
Bei der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven ist unter anderem Thea Hamm in das Projekt involviert. Sie hat die Tierkadaver mit ausgelegt. Mittlerweile wurden die ersten Proben genommen und die erste Wildtierkamera ausgelesen. „Die Insektenentwicklung ist der Hammer!“, sagt sie gut zwei Wochen, nachdem das erste Reh in die Leybucht gelegt wurde. Überraschenderweise sei bisher kein Vogel an dem Kadaver gewesen.
Dafür präsentierte die Fotofalle andere nächtliche Besucher: Marderhunde. Die hätten das tote Reh am fünften Tag entdeckt und innerhalb kürzester Zeit aufgefressen. Marderhunde stammen ursprünglich aus Ostasien und haben sich wie die ebenfalls eingewanderten Waschbären mittlerweile stark in Deutschland verbreitet.