Er musste sogar Flaschen sammeln Ein ausgebeuteter Emder Leiharbeiter erzählt seine Geschichte

| | 24.08.2023 17:33 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
Greg hat in Emden als Staplerfahrer gearbeitet. Foto: Betriebsrat VW Emden
Greg hat in Emden als Staplerfahrer gearbeitet. Foto: Betriebsrat VW Emden
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Vergangenes Jahr kam Greg nach Emden, um im Auftrag einer Leiharbeitsfirma für VW zu arbeiten. Mit den üblen Bedingungen, die ihn in Ostfriesland erwarteten, hatte der Pole allerdings nicht gerechnet.

Emden/Köln/Polen - Wenn Greg von seiner Zeit als Leiharbeiter im Umfeld des Emder VW-Werks spricht, dann redet er schnell und viel. Die polnischen Worte klingen am Telefon etwas blechern, der Empfang scheint nicht besonders gut zu sein. Ab und zu bellt im Hintergrund ein Hund. Dass er voller Emotionen auf die Monate in Ostfriesland zurückblickt, erkennt auch derjenige, der kein Polnisch versteht. Viel entspannter klingt Piotr Mazurek. Er arbeitet in Oldenburg bei der „Fairen Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Er und seine Kollegen helfen Beschäftigten aus Mittel- und Osteuropa – und sind Kummer gewohnt. Heute überträgt Mazurek die Fragen des Reporters ins Polnische und übersetzt das, was Greg antwortet, ruhig und sachlich ins Deutsche. Wenn Mazurek sagt: „Er hat sich gefühlt wie ein Obdachloser“, dann klingt das, als würde er so was jeden Tag hören.

Für Greg hingegen war die Episode in Emden etwas Besonderes – im negativen Sinne. Er habe schon an vielen Orten gearbeitet, sagt er. Aber das, was ihm in Ostfriesland widerfahren sei, das habe er noch nie erlebt. Alles begann mit einer Anzeige im Internet: „Es wurden Arbeiter für VW in Deutschland gesucht.“ Über einen Rekrutierer, der sowohl Deutsch als auch Englisch gesprochen habe, sei er eingestellt worden. „Von diesem Menschen habe ich dann nie wieder etwas gehört“, sagt Greg, der so von seinen Kollegen genannt wird, eigentlich aber anders heißt. Er vermutet, dass der Rekrutierer für mehrere Unternehmen arbeite und ausschließlich dafür zuständig sei, die Ausländer nach Deutschland zu holen. „Das ist eine übliche Praxis“, sagt Mazurek. In Emden sei er in „einer Art Slum“ gelandet, sagt Greg. Darauf angesprochen, hätten die Verantwortlichen ihn damit abgespeist, dass es sich nur um eine Übergangslösung handele.

Sozialversicherungsnummer? Krankenkasse?

Diese Verantwortlichen arbeiteten – wie Greg auch – nicht direkt für Volkswagen, sondern für einen Kölner Leiharbeitgeber, dessen Machenschaften wir im Februar dieses Jahres öffentlich gemacht haben. Jonas P. (Name geändert) ließ unseren Recherchen zufolge seine Arbeitskräfte in Emden in heruntergekommenen Wohnungen hausen, zahlte ihre Gehälter gar nicht oder nicht pünktlich und soll sich zudem nicht um die ordnungsgemäße Anmeldung bei den Krankenkassen gekümmert haben. Greg ist der erste Mitarbeiter der nach P. benannten Firma, der öffentlich mit uns über seine Erfahrungen sprechen will. „Es ist wichtig, dass die Leute vor solchen Menschen gewarnt werden“, wird er am Ende unserer Telefonkonferenz sagen. Inzwischen ist der Gabelstaplerfahrer wieder in Polen und hat eine Weiterbildung zum Baumaschinenführer gemacht.

Doch zurück nach Emden: Nach dem Einstieg bei P. im November habe er erst einmal an einer kurzen Schulung teilnehmen müssen, sagt Greg. Mazurek ergänzt, dass VW damit sicherstellen wolle, dass auch Leiharbeiter eine gewisse Qualifikation mitbrächten. Für Greg sei das Wichtigste aber der eigene Staplerschein gewesen, ohne den er gar nicht hätte arbeiten dürfen. Um weitere Unterlagen sei sich allerdings nicht gekümmert worden, sagt er. Sozialversicherungsnummer? Krankenkasse? Alles egal. Durch unsere Recherchen wissen wir, dass die Staatsanwaltschaft Köln Jonas P. inzwischen angeklagt hat: Unter anderem werfen ihm die Strafverfolger vor, in 46 Fällen Krankenkassenbeiträge nicht gezahlt zu haben. Dem Amtsgericht Köln zufolge geht es um eine Summe im fünfstelligen Bereich. Uns liegen außerdem Unterlagen vor, denen zufolge mindestens firmenintern gefälschte ärztliche Zertifikate kursiert haben sollen.

Der eine sammelt Flaschen, der andere isst Austern

Das Zusammenleben in der Unterkunft sei „sehr schwierig“ gewesen, sagt Greg. Das Gebäude sei schäbig, kaputt und schmutzig gewesen. Als Miete hätten P. und seine Leute pro Arbeiter 200 Euro im Monat vom Lohn einbehalten. Mazurek ergänzt, dass ihm Fälle bekannt seien, in denen Mitarbeiter beispielsweise im Falle von Krankheit zusätzlich 15 Euro pro Tag hätten bezahlen müssen. Das Schlimmste, sagt Greg, sei aber gewesen, dass er monatelang gar kein Gehalt bekommen habe. „Ich habe im November angefangen und erst im März wurde mir der Lohn überwiesen“, sagt er. Davor hätten die Mitarbeiter der Kölner Firma ihm ab und zu kleine Bargeld-Beträge gegeben – aber längst nicht genug zum Leben. „Sie haben uns gesagt, dass VW ihnen Geld schulde“, sagt Greg. Unsere Recherchen hingegen haben nicht ergeben, dass der Wolfsburger Konzern Außenstände bei den Kölnern hatte. Im Gegenteil: Wir wissen, dass P.s Firma selbst beträchtliche Schulden hat.

„Um mir Essen zu kaufen, habe ich jeden angepumpt, den ich kannte“, sagt Greg. Außerdem habe er Pfandflaschen gesammelt, um von dem Erlös einzukaufen. Ohne die Unterstützung seiner Familie aus Polen wäre er aber nicht über die Runden gekommen – und von den Vertrauten seines Arbeitgebers, die selbst in schicken Luxuskarossen vorgefahren seien, habe er immer nur Ausflüchte und Entschuldigungen gehört. Blenden lassen habe er sich aber nicht, sagt Greg. „Teure Autos und teure Uhren machen nach all meinen Erfahrungen keinen Eindruck mehr auf mich“, so der Pole. Im Gegenteil: Menschen, die sich mit so etwas brüsteten, seien meist nur Blender. Tatsächlich hat auch Jonas P. auf Instagram einen Luxus-Lebensstil inszeniert – etwa mit Austern im österreichischen Szene-Ort Kitzbühel und teuren Sportwagen. Inzwischen ist das Profil nicht mehr öffentlich einsehbar.

Verhandlungen hinter dem Rücken vom Boss

Im Januar und Februar, zeitgleich mit unseren Enthüllungen, ging bei P. in Emden alles den Bach runter. „Uns wurde gesagt, dass wir hier weg müssen und stattdessen bei Ford in Köln arbeiten sollen“, sagt Greg. Tatsächlich hat P. unseren Recherchen zufolge nie Arbeitnehmer an Ford verliehen. „Die meinten, dass wir dort mehr Geld verdienen können und bessere Arbeitsbedingungen haben“, sagt Greg. P.s Leute hätten Listen ausgehängt, in denen die Arbeiter hätten eintragen sollen, ob sie dazu bereit wären, mit nach Köln zu gehen. „Ich weiß von einigen, die sich dazu bereiterklärt haben“, sagt er. Diese seien aber alle wieder in Polen. Er selbst habe sich zunächst in die „Mitkommen“-Liste eingetragen, sich die Sache aber wieder anders überlegt. „Mir war klar, dass es nicht mehr bergauf gehen würde.“ Mit der IG Metall und der „Fairen Mobilität“ suchte er deshalb nach einer anderen Möglichkeit.

Greg war einer der ehemaligen P.-Mitarbeiter, die es nach vor den Kölnern streng geheim gehaltenen Verhandlungen zwischen Gewerkschaftern und Autovision geschafft haben, dort eine Anstellung zu bekommen. Damit er finanziell wieder auf die Beine kommen konnte, habe Autovision Anfang des Jahres direkt 650 Euro überwiesen, sagt er. Noch bevor P. und seine Mitarbeiter merkten, was hinter ihren Rücken passiert war, hatten 20 der ehemals Ausgebeuteten einen neuen Job. Aber warum lebt der Staplerfahrer inzwischen wieder in Polen? Grund sind die Freistellungen von mehr als 1000 Leiharbeitern bei Volkswagen in Emden angesichts der schlechten E-Auto-Absatzzahlen. Der Grundsatz: Es müssen zuerst die gehen, die als Letzte gekommen sind. Und Greg und seine Kollegen waren eben erst seit Jahresbeginn bei der VW-Tochter Autovision beschäftigt.

Das Kapitel Ostfriesland ist für den Polen damit abgeschlossen – endgültig. Jetzt, nach seiner Baumaschinenführer-Fortbildung, will er sich aber wieder in Deutschland nach einem Job umsehen, allerdings in Grenznähe. „Damit ich meine Familie regelmäßig sehen kann“, sagt Greg. Dass er wieder an Menschen wie Jonas P. gerät, ist zwar nicht ausgeschlossen. Aber wenigstens ist der Weg nach Hause dann nicht so lang. P. und seine Leute machen übrigens genau dort weiter, so sie aufgehört haben: Die Geschäfte laufen aber nicht mehr auf seinen Namen, sondern auf die Namen von Mitstreitern, denen er vertraut. Wann der erste Gerichtsprozess gegen P. beginnt, ist noch unklar. Aber vielleicht wird ihn der zuständige Richter fragen, ob er in Kitzbühel bei Champagner und Austern auch mal an Greg und die anderen Menschen gedacht hat, die in Emden auf ihren Lohn warteten.

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