Serie Fehntjer Geschichte(n) Als die Fehntjer die Weltmeere eroberten
In nur einem Jahrhundert wurden aus Torfstechern Kapitäne auf den Weltmeeren. Sie brachten Tee, Zucker und Porzellan von ihren Reisen mit aufs Fehn. Doch längst nicht alle Schiffe kehrten heim.
Großefehn - Als die „Dona Luisa“ im Jahr 1900 den Hafen von Archangelsk in Russland mit 200 Fass Teer und 950 Fass Pech beladen verließ, ahnte wohl noch kein Mitglied der Besatzung, dass dies die letzte Fahrt des Dreimasters mit Heimathafen Großefehn sein sollte. Denn Pech hatte Kapitän Heye Egberts Schoone nicht nur als Fracht an Bord. 1892 hatte er das Schiff gekauft, welches 23 Jahre zuvor in Hamburg vom Stapel gelaufen war. Bis zu jenem schicksalshaften Tag segelte es nach England, Irland, Spanien, Frankreich, ins Baltikum und nach Skandinavien. Auch Nord- und Südamerika steuerten die Fehntjer an.
Was und warum
Darum geht es: Aus Torfstechern wurden Seefahrer. Dank ihres Pioniergeistes verschlug es ab 1740 zahlreiche Fehntjer sogar bis in damals wenig bekannte Teile der Welt.
Vor allem interessant für: Fehntjer und regionalgeschichtlich Begeisterte
Deshalb berichten wir: Im Rahmen der Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ wirft die Redaktion Schlaglichter auf Besonderheiten in der Geschichte Großefehns. Es sind Ereignisse, die die 14 Ortschaften und die in ihnen lebenden Menschen zu dem gemacht haben, was sie heute sind. Die Autorin erreichen Sie unter: s.ullrich@zgo.de
Egberts war einer der mutigen frühen Spediteure der See, die aus dem Binnenland heraus die Weltmeere eroberten. In wenig mehr als einem Jahrhundert waren seine Vorfahren vom Torfstecher zum gefragten Handwerker, Reeder oder Schiffskapitän geworden. Sie waren in den Jahrzehnten nach 1633 mit nichts aufs Fehn gekommen und hatten ihr Glück gemacht. Mit viel Fleiß, Pioniergeist und Flexibilität, wie Kerstin Buss mit Bewunderung feststellt. Die Leiterin des Fehnmuseums „Eiland“ in Westgroßefehn beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte der Gemeinde. Sie sagt, was damals in Großefehn geschah, sei vergleichbar mit dem sogenannten American Dream: Einige schafften es vom Tellerwäscher zum Millionär. Auf dem Fehn war es eben nur anders: „Nämlich vom Volksschüler zum Kapitän. Der dann ein Vermögen einfuhr – oder unterging.“
Etliche Seeleute kehrten nicht heim
Die Geschichte der „Dona Luisa“ zeigt, welchen Gefahren die Besatzungen auf offener See ausgesetzt sein konnten. Das Schiff geriet auf seiner letzten Fahrt nach neun Tagen auf See in einen Orkan vor der russischen Küste. Es schlug leck, konnte aber von seiner Mannschaft noch in eine Bucht gesteuert und dort an einer Klippe angetäut werden. Die Männer wurden von einem Fischerboot in Sicherheit gebracht. Karl-Heinz Wiechers hat in seinem Buch „... Und fuhren weit übers Meer“ die Geschichte der „Dona Luisa“ festgehalten. Die Crew des Fehntjer Schiffs hatte Glück im Unglück: Der Kapitän und seine Mannen überlebten. Das traf längst nicht auf alle zu, die in diesen Zeiten an Bord eines Segelschiffs das Meer bereisten. Vor allem in den Jahren Mitte des 18. Jahrhunderts, als aus Binnenschiffern zunehmend Kapitäne auf großer Fahrt wurden, beklagte Großefehn viele tote Seeleute. „De is bleven“ hieß es damals dann oft. „Sie verunglückten zum Teil deswegen, weil ihnen Erfahrung und bessere hochseetaugliche Schiffe fehlten“, erzählt Gunnar Ott. Der Auricher ist Fachmann für die norddeutsche Schifffahrtsgeschichte mit familiären Wurzeln in Großefehn.
Es waren vor allem die wirtschaftlichen Zwänge, die die Menschen im Herzen Ostfrieslands hinaus aufs Meer trieben: War die eigene Parzelle abgetorft, mussten neue Einkünfte her, beispielsweise aus der Arbeit eines Lohnbinnenschiffers oder Küsten-und Wattenmeerschiffers. Fehntjer ließen sich anheuern, waren unter anderem am Bau neuer Schifffahrtswege wie dem Dortmund-Ems-Kanal beteiligt. Fehntjer waren auch im Fischfang und auf Walfängern beschäftigt. Mit kleinen Bojern wurde anfänglich Wattenmeer- und Küstenschifffahrt betrieben. Und – daher stammt wohl der Name – es wurden mit ihm auch Bojen gelegt. Dieser Schiffstyp war mit seinem platten Boden ein Vorfahre von Kuff, Tjalk und Galiot. Am häufigsten im 18. und 19. Jahrhundert aber war die Tjalk.
Um 1900 waren Schiffe aus Großefehn weltweit unterwegs
Die ersten Exkursionen ins Watt und auf offene See unternahmen die Fehnschiffer mit Torfmutte und Tjalk. Das waren die Schiffe, die ihnen auf den Wieken, Kanälen und Flüssen stets gute Dienste geleistet hatten. Die wesentlichen Merkmale waren die gleichen: Der Segelmast ließ sich umklappen und ihr Rumpf hatte flache Böden. Diese Typen wurden fürs Meer weiterentwickelt, weiß Gunnar Ott. Große Seitenschwerter glichen auf See den fehlenden Kiel aus und sollten ein Abtreiben bei Wind und Wellen verhindern. Mit diesem Extra ausgestattet, war die Tjalk gerüstet für den Einsatz im Wattenmeer. Die Binnentjalk war etwa 15 Meter lang, die Seetjalk fürs offene Meer bereits bis zu 19 Meter. Mit ihr segelten die Fehntjer bereits in Nord- und Ostsee. Dort erstanden sie Dinge, die es bis dato nicht oder wenig in Ostfriesland gegeben hatte. Ott: „Wichtige Handelsgüter der europäischen Küstenschifffahrt waren Korn und Leinenstoffe aus dem Baltikum, Holz und Eisen aus Schweden, Holz und Teer aus Norwegen und Gewürze und andere Kolonialwaren aus den Niederlanden.“
Angetrieben vom Wunsch nach mehr Sicherheit und mehr Platz für Fracht, wich die Tjalk zunehmend größeren Schiffen wie Kuff, Brigg und Schoner oder Galiote. Selbst die Kleinste im Bunde, die Kuff, war mit etwa 16 bis 24 Metern Länge und einer Breite von vier Metern bereits ein stattliches Küstenschiff. „Das waren dann schon richtige Handelsschiffe“, mein der Schifffahrtskenner Ott. Die aber passten längst nicht mehr ohne Weiteres auf die kleinen Wasserstraßen im Binnenland. Die Muttjes und kleinen Tjalken hatten so auch weiterhin ihre Aufgaben: Sie übernahmen die Verteilung der Ladung auf den fein verästelten, kleineren Wasserwegen des Binnenlandes.
Qualität „Made in Großefehn“
Gebaut wurden die Schiffsrümpfe der Küsten- und Hochseeschiffe in Großefehn. Fünf Werften hatten sich auf den Schiffsbau spezialisiert. Und der sei hochqualitativ gewesen, lobt Ott. „Er konnte jedem Vergleich standhalten.“ Segler mit bis zu 30 Metern Länge wurden in Großefehn gebaut. Lediglich die letzten Arbeitsschritte erfolgten in Oldersum, wo Masten und Takelage ergänzt wurden. „In der weltweiten Schifffahrt sind Segler aus Großefehn nahezu überall unterwegs gewesen.“ Um 1900 brachten sie zum Beispiel Tabak und Baumwolle aus den US-Südstaaten mit, Zucker aus der Karibik, Zucker und Kaffee aus Brasilien, Kakao aus Afrika, Tee und Porzellan aus China. „Manchmal sind die Fehnschiffer dabei auch Zwischenhändler für die Kolonialwaren aus den Überseegebieten von Briten, Franzosen und Niederländern gewesen.“
Eine große Zahl Reedereien agierte von den Fehnsiedlungen aus. Große Schiffe lagen zwar in Leer, Emden oder den Sielhäfen, doch registriert waren sie noch immer in Großefehn. 1877 erreichte die Anzahl der Schiffe ihren Höhepunkt: Allein 409 Seeschiffe wurden für Großefehn gezählt, zuzüglich zu den Küstenschiffen und Torfkähnen. Das hielt Karl-Ernst Behre in „Ostfriesland – Die Geschichte seiner Landschaft und ihrer Besiedlung“ fest. Damit musste sich Großefehn nicht hinter den großen Häfen mit direktem Zugang zur Nordsee verstecken, weiß Ott: „Mitte des 19. Jahrhunderts wurde von Großefehn aus etwa ein Viertel der auf der ostfriesischen Halbinsel registrierten Schiffe bereedert.“
Seit 1846 hatten viele Fehntjer ihre Patente an der Seefahrtschule in Timmel gemacht. Doch das ist ein anderes Kapitel, das wir zu einem späteren Zeitpunkt aufschlagen. Die Seefahrt wurde damit zwar sicherer, doch das Meer blieb unberechenbar. Zunächst blicken wir in einem neuen Teil der Serie auf den altehrwürdigen Binnenschifferverein Ems-Jade, dessen Ursprünge auf das Jahr 1856 zurückgehen.