Serie „Unser Aurich“ Ein Dorf verliert seinen Mittelpunkt
Pfalzdorf hat ein Problem: Im nächsten Jahr schließt die einzige Gaststätte. Nicht nur der Boßelverein fragt sich nun, wo er bleiben soll.
Pfalzdorf - Die Stimmung im Schankraum der Gaststätte „Zum Pfälzerhaus“ ist gelöst. Hier wird erzählt, hier wird gelacht. Vom Tresen aus schaltet sich der Wirt immer mal wieder ins Tischgespräch ein. Alles auf Platt, versteht sich. Noch verdrängt die fröhliche Runde ein Thema, das sie im nächsten Jahr einholen wird: Das Ehepaar Rocker setzt sich zum 30. Juni zur Ruhe und macht das Pfälzerhaus dicht. Einen Nachfolger gibt es nicht. Die Kinder wollen nicht. Dirk Rocker führt die einzige Pfalzdorfer Gaststätte in fünfter Generation. Sie war schon in seiner Kindheit sein zweites Zuhause. Seine Frau Gertrud ist seit 32 Jahren dabei. Die beiden haben nun das Rentenalter erreicht, und irgendwann ist es genug gewesen.
Wie aber soll Pfalzdorf ohne das Pfälzerhaus auskommen? Wo sollen die Vereine hin? Wo soll Theater gespielt werden? Wo sollen die Schützen trainieren, die hier einen Schießstand haben? Das gesellschaftliche Leben spielt sich in der Gaststätte Rocker ab. Der Mittelpunkt des Dorfes ist hier, an der Ecke Pfalzdorfer Straße/Spekendorfer Straße. Auch der stellvertretende Ortsbürgermeister Artur Mannott (CDU) weiß keinen Rat.
Das Bayern München des Boßelsports
Von der Einwohnerzahl her ist Pfalzdorf der kleinste Auricher Stadtteil. 225 Menschen leben in der Ortschaft acht Kilometer nordöstlich der Innenstadt. Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Doch in einer Hinsicht sind die Pfalzdorfer die Größten: Beim Boßeln macht ihnen niemand etwas vor. Im Saal der Gaststätte Rocker reiht sich Pokal an Pokal. Allein 24-mal wurde die erste Herrenmannschaft seit 1979 Landesmeister. Vor allem in den 1990er und den 2000er Jahren war Pfalzdorf dominant.
Was Bayern München im Fußball ist, ist Pfalzdorf im Boßeln: Wer ihnen mit diesem Satz kommt, erntet ein müdes Lächeln. „Wir sind besser“, sagt Hinrich Henkel und lacht. „Wir geben keine 100 Millionen Euro für einen Spieler aus. In München reden die viel zu viel, wir machen.“ Der langjährige Boßler und passionierte Jäger schaut hinüber zu Frido Walter. Der 59-Jährige ist Vorsitzender des Boßelvereins „Gute Hoffnung“ und darf sich Europameister im Straßenboßeln nennen. 1996 holte Walter diesen Titel in den Niederlanden mit der irischen Eisenkugel, obwohl die Iren damals als unschlagbar galten.
Ein Weltrekord für 15 Minuten
Auch ein anderer Pfalzdorfer Friesensportler hat Geschichte geschrieben: Harm Henkel brach 1985 mit einer Weite von 102 Metern einen mehr als 50 Jahre alten Weltrekord im Klootschießen. Der neue Weltrekord hielt allerdings nur 15 Minuten. Dann wurde er von Hans-Georg Bohlken aus Schweinebrück gebrochen. Der „Bär von Ellens“ warf 105,20 Meter weit.
Walter könnte stundenlang über das Thema Boßeln reden. Aber wie kommt es, dass ein solch kleiner Ort solch eine Boßel-Hochburg ist? Hinrich Henkel sieht die Wurzeln in seiner Jugend: „Was hatten wir für Alternativen?“, fragt der 67-Jährige. Zu Weihnachten gab es als Geschenk eine Pockholzkugel. „Das war das Nonplusultra“, sagt Henkel. „Mehr Angebote hatten wir nicht.“ Schon sein Vater und sein Großvater hätten geboßelt. Im Dorf seien dann die Henkel-Brüder gegen die Walter-Brüder angetreten, Ost gegen West. Pastor Roman Ott sieht einen Grund auch in den geografischen Gegebenheiten in Pfalzdorf: „So ′ne gerade Straße schreit nach Boßeln.“ Früher sei sogar auf der Bundesstraße geboßelt worden. Heute trainieren und spielen die Friesensportler auf der Pfalzdorfer Straße, einer Kreisstraße mit wenig Verkehr.
Von Siedlern aus der Pfalz gegründet
Trotz der vielen Erfolge, trotz der vielen Pokale im Schrank sorgt sich Walter um die Zukunft des Boßelsports. Vor Corona habe der Verein, der im vergangenen Jahr das 75-jährige Bestehen feierte, 210 Mitglieder gehabt, jetzt nur noch 160, davon rund 100 aktive. „Der Frauenbereich ist total zusammengebrochen“, sagt der Vorsitzende. 160 Mitglieder bei 225 Einwohnern klingt noch immer nach einer guten Quote. Doch längst nicht alle Mitglieder des Boßelvereins wohnen in Pfalzdorf. Wer weggezogen ist, bleibt dem Heimatverein verbunden.
Pfalzdorf heißt Pfalzdorf, weil es von Siedlern aus der Pfalz gegründet wurde – wie Dietrichsfeld und Plaggenburg. Der Ort hat einen Namensvetter am Niederrhein: Das dortige Pfalzdorf ist ein Stadtteil von Goch. Es wurde ebenfalls von Pfälzern gegründet. Sie wollten im 18. Jahrhundert eigentlich nach Amerika auswandern und strandeten am Niederrhein. Ein Teil von ihnen zog weiter nach Ostfriesland und gründete dort 1803 eine Moorkolonie namens Pfalzdorf. Pfalzdorf in Ostfriesland ist bis heute mit Pfalzdorf in Nordrhein-Westfalen freundschaftlich verbunden. Die Schützenvereine besuchen einander regelmäßig.
Pfalzdorf will autark werden
Weit vorne ist Pfalzdorf in Sachen erneuerbare Energien. Seit mehr als 20 Jahren produziert der Windpark Königsmoor grünen Strom. Es gibt außerdem eine Biogasanlage. Nun wollen die Betreiber der Anlage, vier Landwirte, das ganze Dorf mit Fernwärme versorgen. „Pfalzdorf will versuchen, autark zu werden“, sagt Hinrich Henkel. Der 67-Jährige mischt in vielen Organisationen mit, unter anderem im Entwässerungsverband Aurich. Henkel berichtet von einem Kuriosum: Pfalzdorf liegt für ostfriesische Verhältnisse hoch, 13 Meter über Normalnull, und wird daher trotz seiner geringen Größe in drei Richtungen entwässert: nach Süden in den Ems-Jade-Kanal, nach Osten in die Harle, nach Nordwesten in die Sandhorster Ehe. Der Ort liegt auf dem Geestrücken. Hier werden Kies und Sand abgebaut.
Apropos bauen: Wie viele Orte klagt auch Pfalzdorf über fehlende Bauplätze für junge Familien. Der stellvertretende Ortsbürgermeister Mannott deutet an, dass sich das ändern könnte. Sieben neue Bauplätze sollen am westlichen Ortsrand geschaffen werden. Doch noch ist nichts spruchreif.
68-Jähriger ermordete seine Frau
Zur jüngeren Geschichte Pfalzdorfs gehört ein trauriges Kapitel: Vor fünf Jahren, am 9. Juli 2018, brachte ein Rentner nach 42 Jahren Ehe seine Frau um. Beim Morgenspaziergang mit dem Hund fasste der 68-Jährige den Entschluss, sich der alkoholkranken Ehefrau auf gewaltsame Art zu entledigen. Er schlug der 64-Jährigen mit einem Hammer den Schädel ein und würgte sie. „Er wusste, was er tat, und wollte es auch“, befand später die Schwurgerichtskammer am Landgericht Aurich. Sie verurteilte den Mann im Januar 2019 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Unser Aurich – Pfalzdorf
Größe: 6,11 Quadratkilometer
Einwohner: 225
Ärzte: keine
Schulen/Kitas: keine
Kirche: keine
Supermärkte: keine
Sonstiges: Klootschießer- und Boßelverein „Gute Hoffnung“, Schützenverein „Dree mal Twalf“, Gaststätte „Zum Pfälzerhaus“, Unternehmen für Land- und Gartentechnik, Bürgerwindpark Königsmoor
Ja, auch die fröhliche Runde am Tisch im Pfälzerhaus erinnert sich an diesen Fall. Karlheinz Klapper, langjähriger Vorsitzender des Schützenvereins, wohnte neben dem Ehepaar, das zurückgezogen lebte und nicht aus Pfalzdorf stammte. „Nett und freundlich“ seien diese Leute gewesen, sagt der 65-Jährige. Er habe es damals nicht fassen können, „was der gemacht hat“.