Ermordet von den Nazis Die Geschichte von Maurice Windmüller – als jüdisches Baby in den besetzten Niederlanden
Maurice Windmüller wurde im Alter von 19 Monaten von den Nazis in Auschwitz umgebracht. Erst mehr als 80 Jahre später wird klar, was dem Baby in seinem kurzen Leben alles widerfahren ist. Teil 1.
Emden/Niederlande - Dies ist die Geschichte von Maurice. Maurice ist der Sohn von Salomon Windmüller und Ruth Windmüller-Kornblum. Geboren wurde Maurice am 14. Juli 1942. 19 Monate später, am 11. Februar 1944, wird er von den Nazis ermordet. In Auschwitz, wo auch seine Eltern den Deutschen zum Opfer fielen. Weil sie Juden waren. Weil sie nicht in die Wahnvorstellungen von Nazi-Deutschland passten. Weil der Wahnsinn auch vor der Ermordung von Babys nicht zurückschreckte.
Warum wir berichten
Bereits im Juni reisten Schülerinnen und Schüler des Max-Windmüller-Gymnasiums Emden zusammen mit Arie Windmüller, Neffe von Max Windmüller, in die Niederlande. Das gemeinsame Ziel: Mehr über Maurice erfahren. Denn erst im vergangenen Jahr und bis heute wurde klar: Was man über Maurices kurzes Leben zu wissen glaubte, stimmt nicht. Maurice überlebte seine Eltern, bevor er selbst von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde.
Die Familie Windmüller – wer ist wer?
Salomon Windmüller ist das älteste Kind von Moritz und Jette Windmüller. Moritz und Jette Windmüller hatten mehrere Kinder. Neben Salomon waren dies noch: Issak, Emil und Max Windmüller. Moritz Windmüller starb 1937 im niederländischen Exil. Jette Windmüller wurde im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet.
Max Windmüller, genannt Cor, war ein deutscher Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Nach der Flucht in die Niederlande schloss er sich dort der Grupper Westerweel an und rettete vielen jüdischen Kindern und Jugendlichen das Leben. Max Windmüller, Namensgeber des Max-Windmüller-Gymnasiums in Emden, wurde am 21. April 1945 auf einem Todesmarsch von der SS erschossen.
Arie Windmüller ist der Neffe von Max Windmüller und der Cousin von Maurice Windmüller. Er lebt mit seiner Familie in Israel.
Arie Windmüller sah bei der Reise mit den Schülerinnen und Schülern aus Emden zum ersten Mal Bilder von Maurice aus dem Jahr 1943. Also aus einer Zeit, in der Maurice bisher bereits als tot galt.
Doch nicht nur die neuen Erkenntnisse machen Maurices Geschichte zu einer besonderen. Maurice wurde geliebt und beschützt. Nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Fremden. Es gab Rettungsversuche, es gab Verrat – und es gibt bis heute viele Unklarheiten und Ungereimtheiten. Was bekannt ist und was nicht, das wollen wir in einer kleinen Artikel-Reihe darstellen. Am 11. Oktober sollte für Maurice ein Stolperstein in Emden verlegt werden. Die Verlegung wurde aufgrund des Angriffes von Hamas und Hisbollah auf Israel auf unbestimmte Zeit verschoben. Viele Verwandte von Maurice, die aus Israel anreisen wollten, können das Land aktuell nicht verlassen.
Maurice wird geboren
Dies ist die Geschichte von Maurice. Sie beginnt in Groningen. Hier erblickt Maurice das Licht der Welt, sein Name soll an seinen Großvater erinnern: Moritz Windmüller. Maurices Vater Salomon ist der ältere Bruder von Max Windmüller. Die Familie hat Emder Wurzeln, Salomon war das älteste Kind von Moritz und Jette Windmüller – und 1933 der erste aus der Familie, der Deutschland verließ und sich in den Niederlanden vor den Nazis sicher wähnte.
Ein Foto zeigt Maurice kurz nach seiner Geburt mit seinen Eltern Ruth und Salomon, aufgenommen in den Niederlanden. Maurice im weißen Strampler, Salomon im feinen Anzug, Ruth im schönen Kleid. Ein Familienfoto, auf dem der „Judenstern“ auf dem Kleid von Ruth nur zum Teil bedeckt ist. Die Hoffnungen der Familie haben sich nicht erfüllt, die Niederlande waren von Deutschland besetzt. Das Foto muss vor dem 2. Oktober 1942 entstanden sein. An diesem Tag wurden die meisten Groninger Juden aus ihren Häusern vertrieben und aus Groningen abtransportiert.
Dennoch existiert eine Geburtsanzeige von Maurice Windmüller, die Geburt wurde offiziell bei den Behörden angezeigt. „Mit großer Freude geben wir die Geburt von unserem Sohn Maurice bekannt“, stand einen Tag nach der Geburt auf niederländisch im „Nieuwsblad van het Noorden“. Ein Zeichen der Hoffnung? Man weiß es nicht. Die Ideologie der Nazis, der Wahn Hitler-Deutschlands hat so viele Spuren gelöscht, dass oft nur Mutmaßungen bleiben. Das Ziel von Hitler und seinen willigen Helfern war es, Juden und andere Menschengruppen aus der Geschichte zu löschen; sämtliche Spuren zu vernichten, die nicht der Dokumentation der eigenen Greueltaten galt.
Maurice wurde von seinen Eltern getrennt
Von den sechs Millionen ermordeten Juden in der Zeit des Nationalsozialismus‘ waren wohl 1,5 Millionen Kinder. Maurice war eines dieser Kinder. Ruth, Salomon und Großmutter Jette wurden im November und Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden. Wo war Maurice in dieser Zeit?
Maurice wird versteckt
Er war, zumindest für eine gewisse Zeit bei Leo Weersing untergebracht. Maurice wurde versteckt, die Weersings kümmerten sich liebevoll, so heißt es in der Familie, um das Baby. Lange Zeit unbekannte Fotografien, wahrscheinlich aus dem April 1943, zeigen Maurice. Er blickt ein bisschen grimmig drein, wie Kinder in dem Alter manchmal sind. Doch er sieht gesund aus.
Maurice ist neun Monate alt – und Waise
Dies ist die Geschichte von Maurice. Maurice, der vor dem 12. November 1942 von seinen Eltern weggegeben wird. Am 12. November 1942 werden Ruth und Salomon ins niederländische Durchgangslager Westerbork deportiert. Maurice ist vier Monate alt.
Dies ist die Geschichte von Maurice, der im April 1943 in den Armen der Familie Weersing fotografiert wird. Er ist ungefähr neun Monate alt. Seine Mutter Ruth ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Sie wird am 30. November von Westerbork nach Auschwitz deportiert und am 3. Dezember dort von den Nazis ermordet. Vergast. Maurices Großmutter Jette kam am 12. Dezember 1942 nach Auschwitz. Drei Tage später wurde sie ermordet. Vergast. Salomon, der Vater von Maurice, kam mit seiner Frau in Ausschwitz an. Er starb am 31. März 1943 infolge von Entbehrungen und Hunger. Die Fotos von Maurice zeigen einen Waisen.
Bevor Maurice am 29. April 1943 nach Westerbork deportiert wurde, wurde er von einer christlichen Familie versteckt. Darum geht es im nächsten Teil.