Ermordet von Nazis Maurice Windmüller – sein Leben endet in der Gaskammer von Auschwitz
Maurice Windmüller wurde im Alter von 19 Monaten von den Nazis in Auschwitz umgebracht. Erst mehr als 80 Jahre später wird klar, was dem Baby in seinem kurzen Leben alles widerfahren ist. Teil 3.
Emden/Westerbork - Wie muss sich Maurice Windmüller gefühlt haben? Im Alter von vier Monaten wurde er von seinen jüdischen Eltern getrennt, kam entweder sofort oder erst später bei der Familie Weersing unter – und musste auch diese Familie wieder verlassen.
Bereits im Juni reisten Schülerinnen und Schüler des Max-Windmüller-Gymnasiums Emden zusammen mit Arie Windmüller, Neffe von Max Windmüller, in die Niederlande. Das gemeinsame Ziel: Mehr über Maurice erfahren. Denn erst im vergangenen Jahr und bis heute wurde klar: Was man über Maurices kurzes Leben zu wissen glaubte, stimmt nicht. Maurice überlebte seine Eltern, bevor er selbst von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. Arie Windmüller sah bei der Reise mit den Schülerinnen und Schülern aus Emden zum ersten Mal Bilder von Maurice aus dem Jahr 1943. Also aus einer Zeit, in der Maurice bisher bereits als tot galt. Doch nicht nur die neuen Erkenntnisse machen Maurices Geschichte zu einer besonderen. Maurice wurde geliebt und beschützt. Nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Fremden. Es gab Rettungsversuche, es gab Verrat – und es gibt bis heute viele Unklarheiten und Ungereimtheiten. Was bekannt ist und was nicht, das wollen wir in einer kleinen Artikel-Reihe darstellen. Am 11. Oktober sollte für Maurice ein Stolperstein in Emden verlegt werden. Die Verlegung wurde aufgrund des Angriffes von Hamas und Hisbollah auf Israel auf unbestimmte Zeit verschoben. Viele Verwandte von Maurice, die aus Israel anreisen wollten, können das Land aktuell nicht verlassen.Warum wir berichten
Nicht einmal neun Monate alt ist Maurice Windmüller, geboren am 14. Juli 1942, als er sein Versteck bei den Weersings verlassen muss. Er wird von Groningen ins fast 50 Kilometer entfernte Übergangslager Westerbork gebracht. Wer kümmert sich während der Fahrt um ihn? Warum muss Maurice sein Versteck verlassen?
23. April 1943: Maurice im Lager Westerbork
Fragen, die seit mehr als 80 Jahren ungeklärt sind. Fakt ist, dass Maurice Windmüller am 23. April 1943 im niederländischen Durchgangslager Westerbork registriert wird. So ist es auf seiner Lagerkarte vermerkt. Einer Karteikarte, in der die Nationalsozialisten und ihre Helfer penibel vermerken, was mit den deportierten Jüdinnen und Juden passierte.
Auch für Maurices Eltern Ruth und Salomon gibt es so eine Karte. Auch sie waren in Westerbork, aber als ihr kleines Kind dorthin gebracht wird, sind Ruth Windmüller-Kornblum und Salomon Kornblum bereits seit Monaten tot. Ruth wird in Auschwitz vergast, Salomon stirbt an Erschöpfung.
Mehr als 107.000 Juden werden über Westerbork deportiert
Westerbork war ein Durchgangslager, von dem aus regelmäßig Züge mit Menschen, vor allem Juden, Richtung Osten fuhren: nach Auschwitz-Birkenau oder nach Sobibor. Insgesamt wurden von 1942 bis 1944 mehr als 107.000 Juden aus Westerbork per Zug deportiert, so die deutsche Wikipedia. Nur etwa 5000 von ihnen überlebten und konnten zurückkehren. Das Durchgangslager Westerbork war Ausgangspunkt für etwa 101.000 der 107.000 aus den Niederlanden ins Deutsche Reich Deportierten. Die Züge hatten folgende Zielorte: Auschwitz (57.800 Deportierte; 65 Züge), Sobibor (34.313 Deportierte; 19 Züge), Bergen-Belsen (3.724 Deportierte; acht Züge) und Theresienstadt (4.466 Deportierte; sechs Züge).
Maurice wird in einem dieser Züge sitzen, zusammen mit mehr als 200 weiteren Kindern. Doch zuvor verbringt er neun Monate in Westerbork – und es gibt Versuche, ihn zu retten.
Clara Asscher-Pinkhof
In Westerbork wird Maurice in Baracke 35 gebracht, das Waisenhaus des Lagers Westerbork. Westerbork ist kein Arbeitslager, es wird sich gut um die Insassen gekümmert. Es gibt unter anderem eine medizinische Versorgung. Nicht aus Nächstenliebe, sondern um die Arbeitskraft für die Arbeits- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten zu erhalten.
Kurz nachdem Maurice Westerbork erreicht, wird am 26. Mai 1943 eine andere Jüdin hierher transportiert: Clara Asscher-Pinkhof. Die Witwe des früheren Groninger Oberrabiners Abraham Asscher ist Kinderbuchautorin und Lehrerin – und übernimmt die Leitung der Waisenbaracke in Westerbork.
Die Palästinaliste als Rettungsversuch
Clara Asscher-Pinkhof muss schnell eine besondere Beziehung zu Maurice aufgebaut haben. Sie versucht, ihn zu retten. Am 13. Juli 1943, einen Tag vor seinem ersten Geburtstag, wird auf der Lagerkarte des Durchgangslagers der Versuch vermerkt, Maurice auf einer sogenannten Palästinaliste zu setzen. Über diese Liste wurde ein „Gefangenenaustausch“ vollzogen, bei denen Jüdinnen und Juden gegen inhaftierte Deutsche, meist Angehörige des Templer-Ordens im damaligen Palästina und NSDAP-Mitglieder, ausgetauscht wurden.
Die Rettung von Maurice rückt mit der Palästinaliste in greifbare Nähe. Doch die Lagerverwaltung stellt fest, dass sie gar nicht genau weiß, zu wem Maurice gehört. Notizen auf der Lagerkarte dokumentieren dies – und die Bemühungen von Clara Asscher-Pinkhof. Sie bietet sich am 8. August 1943 als Pflegemutter für Maurice an. Auch Clara Asscher-Pinkhof steht auf der Palästinaliste und will Maurice als ihren Pflegesohn mitnehmen.
Clara Asscher-Pinkhof muss ein anderes Kind retten
Doch die Hoffnung hält nur wenige Tage an. Das Niederländische Rote Kreuz lehnt das Gesuch für Maurice ab. Clara Asscher-Pinkhof habe das Recht zu Emigration nach Palästina, aber nicht Maurice. Am 11. Januar 1943 wird Clara Asscher-Pinkhof nach Bergen-Belsen gebracht. Zuvor gelingt es ihr, die knapp vierjährige Mindel Färber auf die Palästina-Liste setzen zu lassen. Zusammen mit Mindel und 240 weiteren Jüdinnen und Juden verlässt Clara Asscher-Pinkhof Bergen-Belsen am 30. Juni 1944 in Richtung Palästina. Clara Asscher-Pinkhof stirbt am 25. November 1984 in Haifa.
Maurice ist allein – und auch wiederum nicht. Es wird sich jemand um ihn gekümmert haben. Jemand muss ihn angezogen, gepflegt, gefüttert haben. Jemand muss ihn am 8. Februar 1944, ein Dienstag, zum Bahngleis im Lager gebracht haben. Dort, wo der Zug steht, der Zug „gen Osten“.
Das Westerbork-System
Die Gedenkstätte Kamp Westerbork beschreibt die Züge so: „Vor jedem Transport wurden die Häftlinge ausgewählt, die auf Transport gehen mussten. Die Auswahl war Sache des Lagerkommandanten, der diese Aufgabe gerne den jüdischen Mitarbeitern der Lagerverwaltung überließ.“ Die Zahl, wie viele Jüdinnen und Juden in die Züge gepfercht werden mussten, kam aus Berlin – aus dem Referats IV B 4 von Adolf Eichmann.
„Die SS-Angehörigen schauten nur zu. Auch Gemmeker [der Lagerleiter Albert Konrad Gemmeker, Anm. d. Red.] war erfreut zu sehen, wie hervorragend das Westerbork-System jedes Mal funktionierte. Er hatte alles bis ins kleinste Detail vorbereitet. Wenn die Gruppe sehr groß war, wussten die Mitglieder der Fliegenden Kolonne, was zu tun war. Sie halfen den letzten in der Schlange beim Einsteigen und drängten, bis alle mit Gepäck drin waren. Dann schlossen sie die Schiebetüren. Jeder wurde schnell gezählt. Diese Nummer wurde durch eines der beiden Fenster im Wagen weitergegeben. Ein Mitglied des Ordnungsdienstes kreidete diese Nummer in großen Buchstaben außen an, damit bei der Ankunft schnell festgestellt werden konnte, ob noch alle da waren. Es gab kaum eine Chance zu entkommen. Die Waggons waren bis auf die beiden kleinen vergitterten Fenster fest verschlossen. Nach einem langgezogenen Pfiff setzte sich der Zug ruckartig in Bewegung.“
Maurice Windmüller – Ermordet am 11. Februar 1943
Dies ist die Geschichte von Maurice. Maurice ist der Sohn von Salomon Windmüller und Ruth Windmüller-Kornblum. Geboren wurde Maurice am 14. Juli 1942. 19 Monate später, am 11. Februar 1944, wird er von den Nazis ermordet. In Auschwitz, wo auch seine Eltern den Deutschen zum Opfer fielen. Weil sie Juden waren. Weil sie nicht in die Wahnvorstellungen von Nazi-Deutschland passten. Weil der Wahnsinn auch vor der Ermordung von Babys nicht zurückschreckte.
Musste sein Begleiter oder seine Begleiterin auch einsteigen oder wurde Maurice jemandem übergeben? Hat Maurice geschrien und geweint, als er im vollen Zug war? Haben sich die Menschen um ihn gekümmert, ihn gefüttert auf der mehrtägigen Reise nach Auschwitz?
Jemand muss Maurice mit aus dem Zug genommen haben. Jemand muss ihn in die Gaskammer begleitet haben. Jemand muss ihn danach zusammen mit den anderen Ermordeten aus der Gaskammer geholt und verbrannt haben. In den Massenkrematorien von Auschwitz.
Auch 80 Jahre nach der Ermordung von Maurice Windmüller sind noch Fragen offen. Das liegt auch daran, dass Unterlagen weiter unter Verschluss gehalten werden. Darum geht es im 4. Teil dieser Artikelreihe.