Serie „Mein Aurich“ Das soziale Herz der Kernstadt schlägt im Familienzentrum

| | 22.11.2023 15:15 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Sie krempeln für andere die Ärmel hoch: (von links) Friederike Lohmann-Ornik, Melly Doden, Timo Mehlmann und Günther Berneis. Foto: Ortgies
Sie krempeln für andere die Ärmel hoch: (von links) Friederike Lohmann-Ornik, Melly Doden, Timo Mehlmann und Günther Berneis. Foto: Ortgies
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Zwischen sozialer Verantwortung und historischer Bedeutung: In der Auricher Kernstadt gibt es ein entspanntes Nebeneinander unterschiedlicher Gruppen.

Aurich - Unter dem Pflaster liegt die Vergangenheit. Und die kann die offizielle Geschichtsschreibung schon mal ganz schön ins Wanken bringen. So geschah es an einem trüben Nachmittag im Januar 2009. Archäologen der Ostfriesischen Landschaft machten bei Bauarbeiten für das neue Kirchenkreisamt an der Julianenburger Straße einen spektakulären Fund. Sie entdeckten Keramikscherben aus dem 9. Jahrhundert nach Christus. Damit war klar: Es gab Siedler in Aurechove, wie Aurich früher genannt wurde, sehr viel eher, als man ursprünglich angenommen hatte. Die erste offizielle Erwähnung findet sich im Brokmerbrief aus dem Jahr 1276. Um 1491 soll Aurich die Stadtrechte erhalten haben. Diese vage Formulierung zeigt bereits, dass es einen Haken gibt. Die Urkunde, die exakt diese Verleihung besiegelt, ist nämlich nicht mehr auffindbar. Trotzdem hat niemand Aurich die Stadtrechte streitig gemacht. Warum auch? Als Residenzstadt ist Aurich fast unantastbar, seit die Häuptlingsfamilie Cirksena 1561 ihren Amtssitz von Emden hierhin verlegt hatte. Was man einmal hat, soll man bewahren.

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Auch als die Cirksenas im Jahr 1744 ausstarben, blieb Aurich Sitz der Landesbehörden. Eine Verwaltungs- und Beamtenstadt zu sein ist vielleicht nicht charmant, sichert aber ein solides Auskommen. Das wurde am 1. Juli 1972 nochmal auf breitere Beine gestellt, als sich im Zuge der Gebietsreform gleich 20 kleine Dorfgemeinden der Kernstadt Aurich anschlossen. Diese wuchs mit einem Schlag um das 33-fache ihres eigentlichen Gebiets, nämlich von 5,8 Quadratkilometer auf 197,3 Quadratkilometer. Alle Ortsteile erhielten einen Ortsrat und einen Ortsbürgermeister, nur die Kernstadt ging leer aus. Die Keimzelle von allem war ja alles. So lautete zunächst die allgemeine Einschätzung. Der Bürgermeister von Aurich war auch gleichzeitig Ortsbürgermeister.

Bürgermeister war überfordert

Dass diese Rechnung nicht ganz aufging, stellte sich im Lauf der Zeit heraus. „Wir haben gemerkt, dass der Bürgermeister den Besuch der vielen Altengeburtstage nicht alleine bewerkstelligen konnte, deshalb mussten immer die Ortsbürgermeister reihum miteinsteigen. Weil uns das nicht passte, haben wir überlegt, für die Kernstadt auch einen Ortsrat ins Leben zu rufen“, sagt Arnold Gossel. Der CDU-Ratsherr ist Ortsbürgermeister von Middels. Seine Partei hatte angeregt, einen eigenen Ortsrat für die Kernstadt zu etablieren, weil die Interessen der rund 12.000 Innenstadtbewohner nicht ausreichend berücksichtigt würden. Der SPD-Ortsverein Aurich-Mitte war damit nicht einverstanden. Den Christdemokraten gehe es nur darum, Druck auf die Verwaltung und die Verwaltungsspitze auszuüben, um eigene politische Forderungen durchzusetzen, hieß es aus den Reihen der Sozialdemokraten. Chaos und Kompetenzgerangel zwischen Bürgermeister Heinz-Werner Windhorst (parteilos) und einem Ortsbürgermeister wären programmiert.

Kernstadt

Einwohner: 12.633

Größe: 5,8 Quadratkilometer

Ärzte: Es gibt ein sehr großes Angebot, das durch die Ubbo-Emmius-Klinik vervollständigt wird.

Nahversorgung: etliche Discounter, einen Rewe-Markt, Combi-XL und Edeka-Märkte

Bildungseinrichtungen: einige Schulen, darunter das Ulricianum, die Lamberti-Grundschule und die Realschule, Kitas, Familienzentrum

Kirchen: Lambertikirche, reformierte Kirche

Sonstiges: Familien- und Freizeitbad De Baalje, Boulderhalle, Stiftsmühle, Landgericht und Amtsgericht, Staatsanwaltschaft, Ellernfeld-Stadion, Sparkassen-Arena

Das Auricher Schloss ist in den Jahren 1851 bis 1855 unter Landesbaumeister Ernst Heinrich Blohm errichtet worden. Früher stand an dieser Stelle eine Burg, die Graf Ulrich Cirksena gebaut hatte. Heute beherbergt das Schloss unter anderem das Landgericht und einige Behörden. Foto: Ortgies
Das Auricher Schloss ist in den Jahren 1851 bis 1855 unter Landesbaumeister Ernst Heinrich Blohm errichtet worden. Früher stand an dieser Stelle eine Burg, die Graf Ulrich Cirksena gebaut hatte. Heute beherbergt das Schloss unter anderem das Landgericht und einige Behörden. Foto: Ortgies

Die Christdemokraten setzten sich schließlich durch. Es gelang ihnen, andere Ratsmitglieder von ihrem Vorschlag zu überzeugen. Offiziell gibt es das Gremium seit dem 11. September 2011. Der erste Ortsbürgermeister hieß Sebastian Schulze (SPD). Sein Nachfolger ist Timo Mehlmann (SPD). Die elf Mitglieder des Ortsrates schrieben sich vorrangig die Stärkung der Innenstadt auf ihre Fahnen. Ein deutlicher Akzent lag auf der Schaffung von Angeboten für sozial Schwache oder Benachteiligte. Damals verfügte die Stadt noch über satte Gewerbesteuer-Einnahmen in zweistelliger Millionenhöhe. Parallel war in der Innenstadt das Altstadt-Sanierungsprogramm aufgelegt worden. Es hat dazu geführt, dass Plätze wie der Hohe Wall oder der Georgswall durch eine neue Gestaltung aufgewertet wurden. 2015 ist an der Jahnstraße das Familienzentrum eröffnet worden. Es bietet Dutzenden von Gruppen und Initiativen eine Heimstatt. Theatergruppen und Mütter treffen sich dort ebenso wie die Anonymen Alkoholiker oder Gymnastikgruppen.

Treffpunkt für viele Gruppen

Auch der 750 Mitglieder starke Sozialverband VdK kommt dort zusammen. Sechsmal im Jahr organisiere er Treffen für seine Senioren, sagt der Vorsitzende Günther Berneis. Melly Doden ist von Anfang an im Familienzentrum aktiv. Die Moordorferin leitet das Café Ulrichs. Jeden Freitag von 18.30 bis 23 Uhr treffen sich dort Schwule, Lesben, bi-, hetero- und transsexuelle Menschen jeden Alters. Außerdem betreut sie die Jugendgruppe Baumhaus. Sie habe, als das Familienzentrum noch gar nicht eröffnet war, bereits ihre Fühler ausgestreckt und sich danach erkundigt, wie man sich dort etablieren kann, berichtet Melly Doden im Gespräch mit der Redaktion: „Das hat sehr gut geklappt, wir gehörten zu den ersten Gruppen.“

Der moderne Zweckbau ist Teil des Ulricianums, das mit rund 2000 Schülern die kopfstärktes Bildungseinrichtung ihrer Art in Niedersachsen ist. Die Schule ist 1646 von Ulrich II. (1606-1648) gegründet worden. Foto: Ortgies
Der moderne Zweckbau ist Teil des Ulricianums, das mit rund 2000 Schülern die kopfstärktes Bildungseinrichtung ihrer Art in Niedersachsen ist. Die Schule ist 1646 von Ulrich II. (1606-1648) gegründet worden. Foto: Ortgies

Froh über das geschmeidige soziale Miteinander ist auch Friederike Lohmann-Ornik. Sie leitet das Jugendrotkreuz in Aurich. Aus dem spielerischen Umgang mit Erster Hilfe ergebe sich vielfach für die jungen Teilnehmer eine berufliche Perspektive. Etliche wählten eine Ausbildung in der Pflege oder würden Notfallsanitäter. So trägt eine gute soziale Betreuung in der Auricher Kernstadt dazu bei, dass Versorgungslücken geschlossen werden. Die soziale Basis ist wichtig. Doch wie geht es dem Einzelhandel in Aurich? Vor einigen Jahren hat die Stadt ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben. Es soll unter anderem durch Zielvorgaben verhindern, dass die Innenstadt durch Entwicklungen auf der Grünen Wiese geschwächt wird. Dort darf es nur moderate Erweiterungen geben, um das Angebot in der Innenstadt nicht zu gefährden. Mit Augenmaß haben die Politiker in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass es zwar Neuansiedlungen gibt wie etwa den Combi-XL am Pferdemarkt, aber nichts, das die Kernstadt ausbluten könnte. Erst vor Kurzem hat sich Bürgermeister Horst Feddermann (parteilos) erfreut darüber gezeigt, dass es noch relativ viele inhabergeführte Geschäfte in Aurich gebe.

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