Geld der Krankenkassen reicht nicht AOK, BKK, IKK – „Gesetzlich Versicherte zweiter Klasse“ bei Zahnärzten
Zahnärzte sollen Tausende Euro zurückzahlen. Weil das Geld der Krankenkassen nicht für die Honorare reicht, die für ihre Behandlungen vorgesehen waren. Schaden AOK, BKK, IKK und Co. ihren Versicherten?
Ostfriesland/Hannover/Berlin - „Für eine völlig unzureichende zahnärztliche Finanzierung seitens der Primärkrankenkassen ist keine ausreichende Versorgung leistbar.“ Das beklagt die Bezirksgruppe Ostfriesland des Freien Verbands Deutscher Zahnärzte (FVDZ). Primärkrankenkassen sind AOK, IKK, BKK, SVLG und KBS. Die FVDZ-Bezirksgruppe schreibt: „Die Patienten müssen sich in den nächsten Monaten auf eine strikte Rationierung von zahnärztlichen Leistungen einstellen.“
Was heißt das für die Versicherten von AOK und Co? Das erklärt in der FVDZ-Pressemitteilung dessen stellvertretender Bezirksvorsitzender Dr. Michael Debbrecht: Es könne bedeuten, „dass zahnärztliche Behandlungen nicht in vollem Umfang erbracht“ würden und auf das jeweils neue Quartal verschoben werden müssten. Weil die „Primärkassen“ die „zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel“ reduziert hätten. Dr. Debbrecht ist Zahnarzt in Papenburg und zudem Vorsitzender der Bezirksstelle Ostfriesland der Zahnärztekammer Niedersachsen.
Die Kritik der Kassenzahnärztlichen Vereinigung an AOK und Co
„Die Primärkassen haben bisher keinerlei Entgegenkommen in der Frage der Finanzierung budgetüberschreitender Honorierung für bereits erbrachte Leistungen gezeigt“, kritisiert die Kassenzahnärztliche Vereinigung Niedersachsen (KZVN), die für die ambulante zahnmedizinische Versorgung in Niedersachsen zuständig ist. „Gegenwärtig erhalten Praxen erste Bescheide über Honorar-Einbehalte. Diese betreffen etwa 40 Prozent der zahnärztlichen Praxen bei einer gegenwärtigen durchschnittlichen Höhe von 40.000 Euro je betroffener Praxis.“
Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung schreibt: „Die durch das Gesetzliche-Krankenversicherungen-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) wiedereingeführte strikte Budgetierung führt bundesweit zu einer erheblichen Unterdeckung im Jahr 2023.“ Diese Unterdeckung sei „insbesondere auf die von der Politik nicht beachteten Wechselwirkungen“ des Gesetzes mit der im Juli 2021 eingeführten „bis zu dreijährigen Parodontitis-Behandlungsstrecke“ zurückzuführen. Es geht demnach auch um „Folgeleistungen“ für Zahnfleisch-Behandlungen, die bereits in den Jahren 2021 und 2022 begonnen haben.
So viel Honorar soll eine Auricher Zahnarzt-Praxis zurückzahlen
Zu den finanziell betroffenen Praxen gehört die Praxis „Zahnmedizin Aurich-Norderney“. Für das erste Quartal 2023 betrage die Rückforderung rund 21.300 Euro, sagt Zahnarzt Dr. Armin Roß, einer der Praxis-Inhaber. Pro Monat bekämen Zahnärzte eine Honorar-Vorauszahlung, erklärt er. Und von diesen Vorauszahlungen werde nun Geld zurückgefordert. Wie viel das für das zweite und dritte Quartal sein wird, weiß Dr. Roß noch nicht.
Am 12. Oktober hatte die KZVN in einer Pressemeldung „über erste Abrechnungsdaten“ berichtet, die „belegen, dass es aufgrund der Budgetierung zu Leistungseinschränkungen gekommen ist“. Auf Anfrage unserer Redaktion erläuterte die niedersächsische Vereinigung: „Nachträgliche Honorarkürzungen für erbrachte Leistungen führen alleine aus betriebswirtschaftlicher Sicht zu entsprechenden Konsequenzen bei der Praxisführung. Die massiven Einbehalte (Rückzahlungen) aufgrund der strikten Budgetierung machen eine Planungssicherheit für die Praxen unmöglich.“
Wie wirkt sich das auf Versicherte von AOK, BKK, IKK und Co aus?
In der Konsequenz bleibt laut KZVN „vielen Praxen nur die Anpassung des Leistungsumfangs an das zur Verfügung gestellte Budget“ als Ausweg: „Und das bedeutet, dass Behandlungen bei Primärkassen-Versicherten nicht im notwendigen Umfang durchgeführt werden, wie das Abrechnungsverhalten bereits erkennen lässt.“ Dr. Roß hat von zwei Zahnarzt-Praxen in Ostfriesland gehört, dass sie keine neuen Patienten aufnehmen, die bei der AOK oder anderen Primärkassen krankenversichert sind.
„Das Gesamtbudget der Primärkassen reicht derzeit nicht aus, um die bei der KZVN eingereichten Abrechnungen vollständig auszugleichen“, berichtet die KZVN. „Insofern hat die Vertreterversammlung der KZVN einen Honorarverteilungsmaßstab (HVM) beschlossen. Aus dem gegenwärtigen HVM ergibt sich für die Primärkassen ein vorläufiger maximaler Fallwert (Eurobetrag), bis zu dem Leistungen vollständig vergütet werden. Alle darüber hinausgehenden erbrachten Leistungen werden nicht vergütet.“
Wie bewerten Zahnärzte die Zahlungen von Primär- und Ersatzkassen?
Die KZVN benennt diese Fallwerte auf Anfrage unserer Redaktion: „Primärkassen 110 Euro, Ersatzkassen 145 Euro.“ Und: „Für kieferorthopädische Behandlungen liegen die Fallwerte im Primärkassenbereich bei 160 Euro und bei den Ersatzkassen bei 180 Euro.“ Zu den Ersatzkassen zählt beispielsweise die Barmer. Die niedersächsische Landesvertretung des Verbands der Ersatzkassen hat unserer Redaktion mitgeteilt: „Die Ersatzkassen haben einen Honorarvertrag für 2023 und 2024 mit der KZVN zwischenzeitlich abgeschlossen. Durch Ausnutzung aller aus der Vergangenheit vorhandenen Budgetspielräume ist eine ausreichende Vergütung in diesem und dem nächsten Jahr sichergestellt.“
Das ist den Primärkassen aus zahnärztlicher Sicht offenbar nicht gelungen: „Die festgelegten 110 Euro für einen AOK-Versicherten im Quartal reichen einfach nicht aus“, sagt der Vorsitzende der ostfriesischen FVDZ-Bezirksgruppe Dr. Stephan Gebelein, ein Zahnarzt aus Wittmund. „Diese Sparpolitik der Primärkrankenkassen degradiert ihre eigenen Versicherten zu gesetzlich Versicherten zweiter Klasse, da diese Problematik mit den Ersatzkassen nicht besteht.“ Auch der von Rückzahlungen betroffene Zahnarzt Dr. Roß ist der Meinung, dass die 110 Euro nicht ausreichen – die 145 Euro der Ersatzkassen hingegen sehr wohl.
Welche Schlüsse zieht die KZVN aus den Zahnarzt-Abrechnungen?
Unsere Redaktion hat bei der KZVN nachgehakt, „inwiefern Primärkassen-Patienten aufgrund des Verhaltens ihrer Krankenkassen benachteiligt“ sind, soweit das bereits „aus dem Abrechnungsverhalten der Zahnärzte erkennbar ist“.
Die KZN hat geantwortet: „Erste Abrechnungszahlen belegen, dass Neufälle – offensichtlich als Reaktion auf Einbehalte/Rückzahlungen – in verminderter Zahl zur Abrechnung kommen. Da die Fallzahl nicht nur die Parodontitis-Behandlung betrifft, sondern das gesamte konservierend/chirurgische Behandlungsspektrum, ist es naheliegend, dass auch andere aufschiebbare Behandlungen zeitlich verlagert werden. Dieser Umstand führt dazu, dass längere Wartezeiten für Patientinnen und Patienten entstehen – insbesondere bei Versicherten der Primärkassen aufgrund des niedrigen Fallwertes.“
Wie äußern sich AOK, BKK und IKK in dem Konflikt mit den Zahnärzten?
Unsere Redaktion hat die AOK Niedersachsen, die BKK Nordwest und die Gemeinsame Vertretung der Innungskrankenkassen mit den unterschiedlichen Fallwerten von Primär- und Ersatzkassen konfrontiert, welche die KZVN genannt hat. Die AOK hat daraufhin mitgeteilt: „Die KZVN veröffentlicht die durchschnittlichen Fallwerte, dies sind keine ,Kassenbudgets‘.“ Der 110-Euro-Wert ergebe sich „aus den Mechanismen der Honorarverteilung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung“. Und: „Er ist unabhängig davon, was die Krankenkassen tatsächlich zahlen und was an tatsächlichen Leistungen anfällt“. Die AOK kündigt an: „Es wird ein Budget in Niedersachsen geben, aber die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen und werden über ein Schiedsamt fortgeführt.“
Riskiert die AOK eine schlechtere Zahnarzt-Behandlung ihrer Versicherten? Die Antwort der AOK: „Die KZVN hat die vertragszahnärztliche Versorgung in Niedersachsen nach gesetzlichem Auftrag sicherzustellen und ist daher für die Behandlungen im notwendigen Umfang zuständig.“
Die IKK-Vertretung hat angekündigt, in der kommenden Woche zu antworten.
Für die BKK hat deren Landesverband Mitte geantwortet: „Wir können die Angaben der KZVN nicht nachvollziehen. Die Betriebskrankenkassen haben weder gegenüber der KZV Niedersachsen noch gegenüber den Zahnarztpraxen Honorareinbehalte eingefordert. Darüber hinaus erhalten alle BKK-Versicherten die gleiche zahnmedizinische Versorgung wie auch alle anderen Gesetzliche-Krankenversicherungen-Versicherten, nämlich auf Grundlage geltender Gesetze, Verträge und Richtlinien. Zu den vertraglichen Einzelheiten des Jahres 2023 können wir aktuell keine Auskunft geben, da hier ein Schiedsverfahren läuft. Darüber hinaus können wir auch die Aussage zu den unterschiedlichen Fallwerten von Primär- und Ersatzkassen nicht nachvollziehen. Wir verhandeln Punktwerte, keine Fallwerte.“
Was sagt die KZVN zu den Reaktionen von AOK und BKK?
Aufgrund der Angaben von AOK und BKK hat unsere Redaktion bei der KZVN nachgehakt. Diese erläuterte daraufhin: „Der Fallwert beschreibt einen prognostizierten Eurobetrag als feste aus dem Budget errechnete Größe, die für Leistungen an einem Patienten pro Quartal zur Verfügung steht. Die Herleitung sowie die Berechnung obliegt der KZVN und nicht den Krankenkassen. Der Fallwert ist [...] ein Höchstbetrag, der für erbrachte Leistungen budgetbedingt je Versicherten im Quartal zur Verfügung steht. Bei diesem Höchstbetrag handelt es sich um den Mittelwert aller für das Kalenderjahr prognostizierten Behandlungsfälle im Verhältnis zum Gesamtbudget, das die einzelnen Kassenarten zur Verfügung stellen.“
Die KZVN nennt nach weiteren Erläuterungen zu Berechnungs- beziehungsweise Abrechnungsmodalitäten ein Fallbeispiel: „Benötigt ein Patient beispielsweise fünf einflächige Füllungen (5 X Punktzahl 32 X Punktwert 1,2239 Euro = 195,82 Euro), so ist der Fallwert in Höhe von 110 Euro bereits überschritten.“ Der für die Ersatzkassen errechnete Fallwert von 145 Euro allerdings auch.
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Einzelne Fallwertüberschreitungen könnten jedoch durch einzelne Fallwertunterschreitungen kompensiert werden, erklärt die KZVN: „Insgesamt darf jedoch das in der Quartalsabrechnung ausgewiesene Produkt aus Fallwert mal Fallzahl den ,Honorargrenzwert‘ nicht überschreiten.“
Daraus folgt laut KZVN: „Jeder Euro, der diesen Honorargrenzwert überschreitet, wird entweder aus dem Budget nicht beglichen oder zurückgefordert oder bei der folgenden Quartalsabrechnung einbehalten. Aus diesem Grund ist jede Zahnärztin und jeder Zahnarzt mit der Frage konfrontiert, ob er sie oder er die über den Fallwert hinausgehenden Leistungen kostenlos erbringen möchte oder nicht. Falls er nicht dazu bereit ist, wird der Patient in aller Regel (ausschließlich in aufschiebbaren Situationen) mit der Weiterbehandlung warten müssen.“
Wie entwickelt sich die Situation der Zahnärzte bundesweit?
Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) hat auf Anfrage unserer Redaktion mitgeteilt: „2023 kommt es aufgrund des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes erstmals seit über 10 Jahren wieder flächendeckend zu teils massiven Honorarkürzungen für die Praxen in allen Leistungsbereichen bis auf Zahnersatz [...]: 11 von 17 KZVen erwarten deutliche und nicht mit früheren Jahren vergleichbare Honorarkürzungen für ihre Mitglieder für das Abrechnungsjahr 2023.“
Zu den Folgen schreibt die KZBV: „Honorarkürzungen haben immer auch unmittelbaren Einfluss auf das Versorgungsgeschehen. Schon drohende Honorarausfälle bei bestimmten Leistungen oder Leistungsbereichen führen in der Regel zu einer Anpassung des Leistungsgeschehens. Dabei ist nicht immer wesentlich, in welcher Höhe und wie viele Praxen genau von Honorarkürzungen wirklich betroffen sind. Allein aufgrund der mit den (drohenden) Honorarkürzungen einhergehenden fehlenden Planungssicherheit sind die Praxen gezwungen, sich organisatorisch auf die Mittelbegrenzung einzustellen, was unmittelbar Einfluss auf die Patientenversorgung hat. Eine unsichere und weitestgehend offene Vertragslage, wie wir sie aufgrund des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes im Jahr 2023 vorfinden, verstärkt diesen Effekt noch.“
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