Pilotprojekt startet im Januar Ostfriesland bekommt einen Armuts-Beauftragten
Es gibt Sekten-Beauftragte, Drogen-Beauftragte, Wehr-Beauftragte – aber für das Thema, das diese Gesellschaft diskutieren muss, gibt es keinen. Das sagt der neue Armuts-Beauftragte in Ostfriesland.
Emden/Ostfriesland - Es ist erst einmal ein Fünf-Stunden-Job, den Florian Müller-Goldenstedt Anfang Januar antreten wird. Doch in Sachen Armut kennt sich der Sozialarbeiter im Ruhestand aus. Fast 31 Jahre leitete er den Tagesaufenthalt in Emden. Jetzt wird der 66-Jährige der zweite offizielle Armutsbeauftragte in Deutschland.
Arbeitgeber ist nicht der Bund, sondern der Synodalverband Nördliches Ostfriesland, der Zusammenschluss von 37 evangelisch-reformierten Kirchengemeinden zwischen Emden und Borkum. Er unterhält zahlreiche diakonische Einrichtungen wie Soziale Kaufhäuser oder Angebote im Bereich der Wohnungslosenhilfe. Das Kirchenrentamt Ostfriesland hat seinen Sitz in Emden.
Sekten-, Drogen- und Wehrbeauftragte
„Für alles gibt es Beauftragte, Sekten-Beauftragte, Drogen-Beauftragte, Wehr-Beauftragte - aber für das eigentliche Thema, das diese Gesellschaft diskutieren muss, gibt es keinen“, sagt Müller-Goldenstedt im Gespräch mit dieser Zeitung. „Wir müssen das Thema auch außerhalb von Brennpunktthemen öffentlich halten.“
Dieser Auffassung ist auch Frank Wessels. Der Präses des Synodalverbandes hat den neuen Job bei der evangelischen Kirche vorgeschlagen. Gemeinsam mit Pastor Johannes Miege war er bei einer Tagung in Berlin, sie lernten dort den ersten, seit 2021 eingesetzten, Armutsbeauftragten in Berlin-Neukölln kennen. „Da haben wir beide gedacht, das brauchen wir auch“, sagt Wessels. „Und wir waren uns schnell einig: Das kann nur einer machen, nämlich Florian Müller-Goldenstedt.“
Überfüllte Tafeln und Tagesaufenthalte
Armut gebe es schließlich in Emden und umzu kaum geringer als in Berlin-Neukölln. So habe beispielsweise die Emder Tafel seit langer Zeit einen Aufnahmestopp für weitere Bedürftige. In Visquard kämpfe eine Einrichtung gegen Armut alleinerziehender Mütter auf dem Land. Die Schuldnerberatungen seien derart nachgefragt, dass sogar das Land ein Programm aufgelegt hat, um zusätzliche Stellen zu finanzieren.
Der Tagesaufenthalt in Emden, in dem sich Müller-Goldenstedt besonders gut auskennt, registriere seit längerem 60 bis 70 Besucher am Tag, vorher seien es 40 gewesen. Die Essensausgabe von einst 600 Mittags-Portionen sei im Monat auf 1000 gewachsen. Und die Übernachtungsmöglichkeiten in der „Alten Liebe“ und der Notunterkunft an der Althusiusstraße seien ausgeschöpft. „Das alles sind Kennzeichen dafür, wie es in unserem Land steht“, sagt Wessels.
Hilfsangebote weitererzählen
Der neue Job als Armutsbeauftragter für Ostfriesland ist einer mit Pilotprojekt-Charakter, wie beide betonen. Bei der Fünf-Stunden-Stelle werde nachgesteuert, wenn der Bedarf größer sei „als befürchtet“. Zunächst will Müller-Goldenstedt ein Gerüst aufbauen, Netzwerke nutzen, Presse und Gemeinden ins Boot holen, „Transparenz herstellen und Angebote weitererzählen“, wie er sagt.
In den Emder Rat, in dem Müller-Goldenstedt schon als beratendes Mitglied für die evangelischen Gemeinden tätig war, will er zwar nicht mehr aktiv berufen werden. „Aber für einen Experten-Vortrag will ich gerne beratend zur Seite stehen“, sagt Müller-Goldenstedt. Stellung nehmen zu den Plänen der Stadt, Kontakte zu Landtagsabgeordneten nutzen, beispielsweise, wenn es um Kürzungen im Jobcenter geht, Position beziehen - das falle in sein neues Aufgabenspektrum. „Der Kerngedanke ist, der Armut eine Stimme zu geben“, sagte Wessels. „Auch zu nerven, den Finger in die Wunde zu legen.“
Aufklären gegen rechts
Und aufzuklären, wie Müller-Goldenstedt betont. Was Armut bedeutet, wüssten die wenigsten genau. Verbreitetet sei die These, dass alle ja gut abgefedert seien und sich Arbeit gegenüber der Bürgergeld-Option nicht mehr lohne. „Ja, es ist richtig, dass das Lohnabstandsgebot kaum mehr gehalten wird“, sagt Müller Goldenstedt. Der Mindestlohnempfänger mit zwei Kindern liege tatsächlich nur noch knapp über dem Bürgergeld. „Aber richtig wäre es, mehr Lohn zu verlangen statt das Bürgergeld zu senken.“
Genau diese Dinge benennen, „damit man eben nicht auf die Parolen der AfD hereinfällt“, sagt Wessels. Einkommen weiter herunterzuschrauben, sei keine Option. Wer mit dem Existenzminimum auskommen muss, habe nichts für später. Altersarmut, unzureichende Pflegeversicherung, neuste miserable Ergebnisse der PISA-Studie: „Viele kommen aus prekären Verhältnissen nicht mehr heraus“, sagt Wessels. „Auch bei uns nicht. Überall wohin man blickt im reichsten Land ist das so.“
Aufmerksamkeit gewinnen
Ein weiteres Beispiel: die Zahl der Wohnungslosen sei in Deutschland in den letzten fünf Jahren um 58 Prozent gestiegen, dabei hatte die Bundesregierung vor, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen. Aber kein Konzept, kein Plan, sei bisher dafür bekannt geworden. „Auch Emden hat noch nichts, man wartet aufs Land, das Land auf den Bund - die Zeit läuft davon“, so Müller-Goldenstedt. Er will jetzt dafür sorgen, dass das Thema nicht vergessen wird.
Für Beachtung hat die Ernennung des ersten Armutsbeauftragten jetzt schon einmal gesorgt. Zeitungen bitten um Interviews, auch überregionale. Die Gemeinde Leer habe angefragt. „Alle wollen mit uns sprechen“, sagt Wessels. „Auch das müssen wir nutzen.“