Jahresbericht der Wohnungslosenhilfe Obdachlosigkeit in Emden erreicht Spitzenwerte


Wenn sich Obdachlose in der Notunterkunft häuslich einrichten, ist etwas faul im Sozialstaat. In Emden wird es immer schwerer, für diese Klientel Wohnraum zu beschaffen.
Emden - „Zuhause, wo keines ist“ - so lautet der jetzt erschienene Fünf-Jahresbericht der Wohnungshilfe Emden des Synodalverbandes Ostfriesland der evangelisch-reformierten Kirche. Er könnte aber auch genauso gut die Schlagzeile „Obdachlosigkeit erreicht in Emden Spitzenwerte, sie verstetigt sich sogar“ tragen. Denn alle Daten, Zahlen, Fakten aus besagten letzten fünf Jahren der verschiedenen Einrichtungen sprechen diese deutliche Sprache.Ostfriesland bekommt einen Armuts-Beauftragten
Situation auf Emder Wohnungsmarkt verschärft sich
Es fehlt ein Angebot allein für obdachlose Frauen
In Emden wurden weniger Obdachlose registriert
Unter allen finanziell gering ausgestatteten Menschengruppen scheinen die Obdachlosen tatsächlich die schwächsten zu sein. Das bestätigt auch der Leiter des von der Kirche betriebenen Tagesaufenthalts an der Hansastraße in Emden, Andy Dannecker. „Andere Gruppen können noch auf den wenigen kommunalen Wohnraum zurückgreifen“, sagte er. Nach Bundes- oder Landesvorgaben werden diese Notleidenden vermittelt, Vermieter auch prekärer Wohnungen nehmen dieses Klientel gerne, da Stadt, Land oder Bund bezahlen. Allein für die hiesigen Obdachlosen bleibt nichts übrig. Dannecker: „Auch das ist ein Stückweit Diskriminierung.“

„Alte Liebe“ zu 80 Prozent belegt
Wie groß die Not in Emden unter Obdachlosen ist, zeigt sich am Beispiel der Übernachtungsunterkunft „Alte Liebe“. Während die Auslastung im Vergleichszeitraum von zehn Jahren bei etwa 54 Prozent lag, steigt sie in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich an. 2022 lag der Durchschnitt bei 71,7 Prozent. Und in diesem Jahr wird er sich bei über 80 Prozent einpendeln, ist Dannecker überzeugt. Denn bis einschließlich November waren schon 5023 Übernachtungen gezählt worden, im ganzen Jahr 2022 waren es 4974. „Auch unsere Notunterkunft ist voll“, sagte Dannecker. Die gibt es seit dem Brand der „Alten Liebe“ im Jahr 2020 zusätzlich in der Nähe der eigentlichen Unterkunft.
Und das sind nur die rein rechnerischen Zahlen. Tatsächlich sei auch die „Alte Liebe“ oben an der Nesserlander Straße häufig zu 100 Prozent belegt. Denn Menschen, die mit schweren psychischen Problemen kommen, können nicht ohne weiteres in einem Mehrbettzimmer untergebracht werden. Einzelzimmer sind rar. Außerdem übernachten immer mehr Frauen in der Unterkunft. Und es kommen immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund, die zeitweise die „Alte Liebe“ nutzen. Neu unter den Nutzerinnen sind zudem kürzlich nach Deutschland geflüchtete, zum Beispiel Ukrainer, die Klientel sei sehr international geworden, heißt es in dem Bericht.
Nutzungsdauer der Notunterkünfte wird länger
Besonders Frauen bleiben lange in der Unterkunft. Ihre Verweildauer ist von 43 Nächten in den vergangenen fünf Jahren auf 65 Nächte gestiegen. Bei Männern hat sich die Nutzungsdauer von 25 auf 46 fast verdoppelt. Sie finden allerdings leichter Übernachtungsalternativen bei Bekannten oder schlafen draußen, heißt es.
Letztlich sei fehlender Wohnraum für obdachlose Menschen ausschlaggebend für die längerfristige Nutzung der „Alten Liebe“. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Tagesaufenthalts und der Beratungsstelle werde es immer problematischer, adäquaten Wohnraum für die Klientel zu finden.
Der Drang des „wohnen Wollens“
Das oft bemühte Vorurteil, dass manche der Obdachlosen gar nicht anders als auf der Straße leben wollen, wird nicht zuletzt durch eine neue Beobachtung in der „Alten Liebe“ widerlegt. Vom „Drang des wohnen Wollen“ sprechen die Mitarbeiter in dem Jahresbericht bei dem Phänomen, bei dem die Übernachtungsgäste inzwischen versuchen, sich über die gut und funktional eingerichteten Schlafräume der Unterkunft hinaus häuslich einzurichten - nicht selten durch Mitbringen von Kleinmöbeln, Elektrogeräten oder Dekoartikeln. Das stehe allerdings im Widerspruch zum Brandschutz und mache sensibles, aber bestimmtes Intervenieren der Mitarbeiter nötig.
Und die absolute Zahl der Menschen in Ostfriesland, die „Zuhause wohnen wollen, wo keines ist“, steigt. Seit 2014 führt der Synodalverband in den Wohnungshilfeeinrichtungen Stichtagserhebungen in Emden, Aurich und Leer durch. Dabei werden alle Personen gezählt, die obdachlos sind, draußen schlafen, von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Dabei gibt es in Emden deutliche Anstiege vom Vorjahreszeitraum 2021 zu 2022: Von 48 auf 72 Obdachlose und von 19 auf 37 Menschen, die in prekären Wohnungen leben müssen.
Bis 2030 keine Obdachlosen mehr?
Auch die Bundesregierung zählt diese Fälle. Der 31. Januar ist stets der Stichtag, bei dem auch die Nutzer der „Alten Liebe“ eingerechnet werden. Im kommenden Januar dürfte es einen weiteren Ausschlag der Zahlen geben.
Hintergrund ist, dass bis im Jahr 2030 die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit überwunden sein soll - so das Ziel der amtierenden Bundesregierung. An der Erreichbarkeit dieses Ziels haben nicht nur die Autoren des Fünf-Jahres-Berichts ihre Zweifel. In Emden fehlt nachweislich Wohnraum im Niedrigpreissegment. Eine weitere Wohnbedarfsstudie soll das jetzt erneut bestätigen. „Das Ergebnis wird, soviel darf vermutet werden, nicht anders ausfallen“, heißt es in dem Bericht. Und die Kritik an den Handelnden der Stadt wird darin noch deutlicher: „Politik, Stadtverwaltung und Immobiliengesellschaften haben trotz der Expertisen kein Interesse an einer Änderung der politischen Rahmenbedingungen und Vorgaben für den Wohnungsmarkt.“
Stattdessen setze man auf einen „Sickereffekt“, wonach derjenige, der sich eine bessere Wohnung leisten könne, in die teure ziehe und seine alte freimache. Das funktioniere aber nur auf einem entspannten Wohnungsmarkt, der Emder sei „äußerst angespannt“, erklärt der Bericht. Die geplanten zehn Prozent Sozialwohnungen auf dem Ültjegelände - gleich neben dem Tagesaufenthalt übrigens - sind dabei vielleicht nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und doch werden auch diese Wohnungen schon aufgrund der hohen Baukosten und erwarteten Minderrendite inzwischen von den Investoren in Zweifel gezogen. Die Investoren sind im Übrigen gemeinnützige Bau- und Immobiliengesellschaften der Stadt und eigentlich per Satzung nicht gewinnorientiert.