Meinungsfreiheit in der Krise Warum sich Menschen vor kontroversen Debatten fürchten

| | 30.12.2023 09:33 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Chefredakteur Lars Reckermann Foto: Giers
Chefredakteur Lars Reckermann Foto: Giers
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Chefredakteur Lars Reckermann blickt auf die Herausforderungen einer Debattenkultur und stellt die Frage, ob wir noch fähig sind, respektvoll und konstruktiv über kontroverse Meinungen zu diskutieren.

Vor einem Jahr habe ich in Polson Urlaub gemacht. Polson ist eine Stadt im amerikanischen Bundesstaat Montana. Der überschaubare Ort (circa 5400 Einwohner) liegt am Südufer des Flathead Lake. Wir wohnten bei Jamie, einem quirligen Mittfünfziger, der gerne Wassersport treibt und sein Geld mit der Planung von Swimmingpools verdient. Eines Abends stellte ich ihm die klassische Frage, die Europäer in letzter Zeit so oft an Amerikaner richten: „Sag mal, Jamie, was hältst du eigentlich von Trump?“ Ich glaube, ich kannte seine Einstellung inzwischen, aber ich wollte ein bisschen Small Talk machen und natürlich die Meinung eines US-Bürgers aus erster Hand erfahren.

Jamie schaute mich lange an und antwortete dann: „Sei nicht böse, Lars. Ich will nicht mit dir über Politik reden. Ich bin nach Polson gezogen, weil meine Nachbarschaft unpolitisch ist. Wir respektieren einander, wir reden miteinander, wir helfen einander, aber wir reden nicht über Politik. Und damit sind wir alle zufrieden.“

Ist das eine Art Selbstzensur?

Ich respektierte seine Antwort, und wir blieben während unseres Aufenthalts unpolitisch.

Seitdem geht mir Jamies Antwort nicht mehr aus dem Kopf. Warum scheut er die Diskussion? Haben politische Korrektheit und die Angst, als politisch inkorrekt oder intolerant abgestempelt zu werden, bei Jamie zu einer Art Selbstzensur geführt? Hatte er gar Angst vor sozialer Isolation? Fürchtete er berufliche Konsequenzen?

Können wir mit kontroversen Meinungen überhaupt noch umgehen?

Für mich gehört es zu den Grundpfeilern der Demokratie und unserer Meinungsfreiheit, dass andere Meinungen respektiert werden. Aber: Können wir mit kontroversen Meinungen überhaupt noch umgehen? Können wir uns die Kernpunkte einer Debatte noch anhören, zur Kenntnis nehmen und Argumente austauschen? Können wir – und das ist für mich die Königsdisziplin – Meinungsfreiheit in einem konstruktiven und respektvollen Umfeld ermöglichen? Oder bleibt Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, am Ende dieses Beitrags nur die Erkenntnis, dass ich mir vor einem Jahr einen Urlaub in den USA gegönnt habe und damit eine inakzeptable Klimabilanz aufweise? Ich alte Umweltsau! Ich habe übrigens auch nicht gegendert.

Ein Journalist braucht das offene Gespräch. Er hört zu, schreibt auf, gibt wieder. Das führt oft dazu, dass wir in der Mühle der stark polarisierten Positionen zermahlt werden. Ein Beispiel: Wir berichten regelmäßig über die Bauernproteste, über die Ängste und Sorgen der Landwirte. Wir haben sogar eine Serie, die den Wandel in der Landwirtschaft beschreibt. Als wir uns kürzlich kritisch und in Form einer Glosse zu den jüngsten Blockadeprotesten geäußert haben, hagelte es harsche Kritik bis hin zu der Aufforderung, den Zugang zur Zeitung zu blockieren und die Zeitung gleich zu boykottieren. Wer nicht meiner Meinung ist, ist gegen mich. Basta! Natürlich spielte sich das in den sozialen Medien ab, wo die Hemmschwelle zu unbedachten Kommentaren steigt, während die Bereitschaft, sich an einer konstruktiven Debatte zu beteiligen, sinkt.

Was ist mit Anstand und Benehmen?

Gelingt es uns nicht mehr, andere Meinungen zu respektieren, auch wenn sie nicht unserer eigenen Meinung entsprechen?

Jeder Mensch trägt eine persönliche Verantwortung für das, was er sagt. Und nein, es darf nicht alles gesagt werden. Es gibt Grenzen. Beleidigungen, Lügen über andere oder Diskriminierungen sind nicht durch unser Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Volksverhetzung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, üble Nachrede, Verleumdung . . . Auch in einer freien Gesellschaft gibt es Äußerungen, die nicht toleriert werden sollten. Und dann gibt es noch so etwas wie die aus der Mode gekommenen Tugenden „Anstand“ und „Benehmen“.

Haben Sie eine Idee?

Wir von der Ostfriesen-Zeitung, dem General Anzeiger und der Borkumer Zeitung möchten im neuen Jahr mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen offenen Dialog über die Herausforderungen der aktuellen Debattenkultur führen. Vielleicht haben auch Sie eine Idee, wie wir kritisches Denken fördern und die Fähigkeit zu konstruktiven Diskussionen stärken können. Schreiben Sie mir unter l.reckermann@zgo.de.

Mit Manfred Tannen und seinem Team vom Landwirtschaftlichen Hauptverein für Ostfriesland wollen wir „Scheunengespräche“ initiieren. Wir wollen zuhören und Verständnis wecken. Für unterschiedliche Sichtweisen. Wir wollen mit Ihnen die Balance zwischen Meinungsfreiheit und Verantwortung neu finden. Warum? Weil ein offener, respektvoller Diskurs das Fundament einer lebendigen Demokratie ist und weil Ostfriesen miteinander reden – ehrlich, offen, streitend und versöhnend. Wir leben eben nicht in Polson, Montana.

Teilen Sie Jamies Ansicht?

Mit Jamie habe ich diese Analyse begonnen, mit Jamie möchte ich sie auch beenden. Als Jamie mir sagte, er wolle nicht über Politik reden, kam mir sofort das Tucholsky-Zitat in den Sinn: „Freundschaft beruht darauf, dass eben nicht alles gesagt wird; nur so ist Beieinandersein möglich.“ Im Kern mag diese Aussage richtig sein. Das Signal, das von diesem Satz ausgeht, halte ich für falsch.

Wir alle haben die Möglichkeit, beim Silvesteressen anregende Gespräche zu führen. Ich hoffe, Sie feiern mit Freunden oder nutzen die Gelegenheit, neue Freundschaften zu schließen. Kommen Sie gut ins neue Jahr. Bleiben Sie gesund, glücklich und uns gewogen. Auch wenn wir manchmal anderer Meinung sind.

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