Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Drei Familien, zwei Kontinente, eine Herkunft: Großefehn
Für viele Fehntjer war Mitte des 19. Jahrhunderts eine Auswanderung nach Amerika der letzte Ausweg. Der Kontakt riss oft ab – doch viele Amerikaner suchen heute nach ihren ostfriesischen Wurzeln.
Großefehn - Ab 1846 verließen viele Menschen ihre Heimat und machten sich auf in ein neues Leben. Sie wanderten aus. Auch zahlreiche Fehntjer machten sich auf den Weg. Viele versuchten ihr Glück in Amerika. Es waren harte und entbehrungsreiche Jahre. Die Siedler entwässerten das weite Land des Mittleren Westens, wie sie es bereits auf dem Fehn getan hatten. Nach Starkregen stand oft alles unter Wasser. „Krankheiten wie Fieber, Schüttelfrost und Darmerkrankungen waren an der Tagesordnung“, fand Lisa Buß heraus. Die ersten Siedler legten den Grundstein für ihre Nachkommen und andere Ostfriesen, die ihnen folgten. Lisa Buß ist eine Frau, die Menschen zusammenbringt. Das tut sie in der Historischen Schmiede Striek in Ostgroßefehn, in deren Vorstand sie aktiv ist. Aber auch über Tausende von Kilometer hinweg.
Lisa Buß baut Menschen Brücken in die familiäre Vergangenheit – und schafft Familien damit eine gemeinsame Zukunft. Schon vor ihrer Pensionierung als Lehrerin für Englisch und Deutsch an der KGS Großefehn hatte sie sich intensiv mit der Auswanderungsgeschichte auseinandergesetzt und so im Verlauf der Zeit nicht nur die eigene, sondern auch verschiedene andere Familiengeschichten rekonstruiert. Im Jahr 1851 betrug die Einwohnerzahl Großefehns 1943 Personen. Nachweislich, so Buß, wanderten mehr als 200 Menschen aus. Sie aber geht davon aus, dass die Anzahl der Fehntjer, die auswanderten, noch deutlich höher ist. Oft sei nämlich nur „Ostfriesland“ als Ort der Herkunft in den Einwanderungspapieren vermerkt – und viele Unterlagen seien ohnehin verloren gegangen. Bekannt sei jedoch, dass die Namen Aden, Assing, Bohlen, de Wall, Doyen, Piepersgerdes, Kleen, Loets, Peters, Wiemers oder Schoon/e unter den Auswanderern aus Großefehn häufiger vorkamen.
Landsleute fanden in der Fremde zueinander
Exemplarisch hat Lisa Buß genauer nachvollzogen, wie unter anderem die Familie Bünting aus Timmel, Familie Ihler aus Neuefehn und Familie Kleen in Ostgroßefehn den Neuanfang machten. Sie alle zog es in den Mittleren Westen Amerikas – wo sich ihre Wege kreuzten. Im Champaign County im Bundesstaat Illinois waren die Büntings und Ihlers Teil der gleichen Kirchengemeinde, der lutherischen Kirchengemeinde von Flatville. Nachkommen der beiden Familien heirateten: „Kein Einzelfall“, wie Buß weiß. „Heiraten fanden fast ausschließlich unter ostfriesischen Landsleuten statt.“
Insgesamt 22 Personen der Familie Bünting wanderten Lisa Buß zufolge nachweislich zwischen 1857 und 1894 aus. Das folgte meist bestimmten Regeln: Zunächst waren es einzelne Personen, die als Pioniere zuerst das Abenteuer Amerika wagten. Meist waren es Männer. Diese zogen andere Familienmitglieder nach. Die Initialzündung bei den Büntings aber gab es offenbar früher: Bartelt Hinrichs Bartell und Gretje Focken Bünting heirateten 1857 in Adams County, Illinois. „Zu dieser Zeit war die Gründung der Ostfriesensiedlung Golden (Little Ostfriesland) in Adams County gerade erst erfolgt. Bartell war einer von drei Männern, die sich von dort aus in die Präriesümpfe im Inneren des Staates aufmachten, das später als Flatville, Champaign County, die Heimat vieler Ostfriesen werden sollte.“
Familie Bünting aus Timmel
1869 gruben die ersten Siedler dort mit Ochsen und Pflügen Entwässerungskanäle und legten in Handarbeit unterirdische Rohre. Die Arbeit war kräftezehrend. Ganz so, wie die aus Ostfriesland stammenden Pioniere es schon vom Fehn kannten. Reiner Focken Bünting wurde 1835 in Timmel als siebtes von zehn Kindern geboren. Er war Kolonist. „Als Kolonist hatte man zu der Zeit kaum genug zum Leben; Armut wird vermutlich der Schubfaktor für die Auswanderung gewesen sein“, schreibt Buß in der Timmeler Ortschronik „Timberlae“.
Im Jahr 1866 wanderte Bünting mit seiner ersten Frau und fünf kleinen Kindern im Alter von zwei bis zehn Jahren aus. Ihr erstes Ziel war Wisconsin, dann aber zog die mittlerweile achtköpfige Familie weiter nach Flatville, Illinois. Ein Sohn zog 1911 weiter bis nach North Dakota. Keine Seltenheit: Illinois war bereits stark besiedelt, die Landpreise gestiegen. Viele Ostfriesen zogen weiter. Bis 1894 kamen weitere Familienmitglieder nach. Nicht alle kamen ohne Schrecken bei ihren Familien an: Buß zufolge wurde eine der Reisegruppen in New York zunächst inhaftiert. Sie waren bei den Einwanderungskontrollen aufgefallen – durch „unverständliche Sprache“. Sie hatten Plattdeutsch miteinander gesprochen.
Familie Ihler aus Neuefehn
Wattje Wattjes Ihler und seine Frau Gebke wagten 1869 mit fünf Kindern das Abenteuer Auswanderung. Die Familie des Schiffszimmermanns und Werftbesitzers schloss sich dafür mit einer anderen Familie zusammen. Ihler hatte auf der Werft seines Onkels am Spetzerfehnkanal gelernt und diese später gekauft. 1869 verkaufte er sie wiederum an einen Lehrling. Der Erlös war das Startkapital für den Neubeginn in Amerika. Bevor es losgehen konnte, musste die Familie sich die Erlaubnis des königlichen Amtes in Aurich einholen. Denn da die Söhne mit ihnen gingen, konnten diese keinen Militärdienst leisten. Auch der war ein Grund, aus dem viele Ostfriesen das Weite suchten. Ihlers Söhne waren noch zu jung für den Dienst an der Waffe – sie bekamen ihren Auswanderer-Pass. Lisa Buß stöberte sogar den Vermerk auf, den das Amt erteilte.
Wattje Wattjes Ihler kaufte im Champaign County zunächst 20 Hektar Land für sich und seine Familie, erweiterte die Fläche aber sukzessive. Er wurde Farmer. Ihler war angesehen, erfolgreich und maßgeblich am Bau der ersten Kirche in der Region Flatville beteiligt. Ihler stattete seine Kinder zu deren Hochzeit ebenfalls mit Land aus. Binnen 20 Jahren nach Ankunft in den USA hatte es die Ihler-Familie auf einen Grundbesitz von mehr als 700 Hektar gebracht. Die mehr als 100 Jahre alte Ursprungsfarm ist bis heute im Familienbesitz, auch das alte Haus ist noch erhalten. Lisa Buß besuchte es auf einer ihrer Amerikareisen. „Es enthält noch das Originalfenster und die in Handarbeit gefertigte Haustür des Schiffszimmermanns Wattje Wattjes Ehler, worauf mich bei einem Besuch im Jahre 2009 die Familie Ehler voller Stolz aufmerksam machte.“ Aus dem Namen Ihler war Ehler geworden. Viele Nachkommen leben noch heute in der Region.
Familie Kleen aus Ostgroßefehn
Aus Ostgroßefehn brachen zudem in den Jahren 1884 bis 1901 insgesamt 17 Mitglieder der Familie Kleen auf nach Amerika. Den Anfang machten Enne Harms Kleen und seine Frau Gretje 1884 mit zwei Kleinkindern. Ihr Ziel war Pomeroy, Iowa, wo sich bereits andere Fehntjer niedergelassen hatten. Insgesamt elf Erwachsene und sechs Kinder dieser Familie von Landgebräuchern und Schiffern machten sich auf den Weg – und verdienten ihren Lebensunterhalt in Amerika angekommen als Farmer. Heye Harms Kleen und seine Frau Janna waren beim Verlassen der Heimat bereits 58 beziehungsweise 59 Jahre alt. In Iowa angekommen, plagte sie das Heimweh. Doch das Geld, in die alte Heimat nach Europa zurückzukehren, konnten sie nicht aufbringen.
Antje Kleen, einzige Tochter des Ehepaares, blieb in Großefehn im Elternhaus nördlich der Mühle von Ostgroßefehn. Der Kontakt riss ab. Das passierte in vielen Familien, wenn auch meist erst im Verlauf der weiteren Jahrzehnte. Immerhin trennten die Familienmitglieder etwa 7000 Kilometer. Und irgendwann auch die Sprache. „In der Nachkriegszeit ging es auseinander“, weiß Lisa Buß. „Weil die Amerikaner kein Deutsch mehr sprachen.“ Nicht nur im Bundesstaat Iowa drohte den früheren Ostfriesen Strafe, wenn sie beim Sprechen ihrer Heimatsprache erwischt wurden. „Es war bei Strafe verboten, Deutsch zu reden. Da kam man ins Gefängnis. Das hab ich in verschiedenen Quellen gelesen.“ Das galt offenbar ebenso für Plattdeutsch.
Ein Wiedersehen
„In den letzten Jahren suchen die Nachkommen der Auswanderer verstärkt die Verbindung zum Heimatland ihrer Vorfahren“, stellt Lisa Buß fest. Sie selbst wurde über das Internet gefunden – aber auch andere deutsch-amerikanische Familienbande konnten neu geknüpft werden. So begab sich im Jahr 2002 ein Nachfahre der Familie Bünting auf Spurensuche in die Vergangenheit seiner Ahnen und besuchte das Wohnhaus seines Ur-Ur-Urgroßvaters in Timmel. In der Familie Kleen wollte ebenfalls jemand seine Wurzeln finden: Ein Teil der in Amerika lebenden Seite kam 2008 zu einem von Lisa Buß organisierten Familientreffen nach Großefehn, um die hier lebende Verwandtschaft der Familie Saathoff kennenzulernen.
Dabei ist das Anknüpfen und verbinden loser Stränge der Familienstammbäume nicht immer leicht. Namen haben sich beispielsweise verändert: Aus dem Namen Bünting wurde in Amerika Benting, Bunting oder Buenting. Manchmal hilft aber auch der Zufall nach: „Shirley Wyatt fand mich im Internet“, erinnert sich Buß. Die Fehntjerin hatte eine Internetseite mit Winterimpressionen aus Ostfriesland erstellt und da auch ein Rezept für Neujahrskuchen integriert. Wyatt aus Rantoul, Illinois, ist Nachfahrin der Familie Ihler. Sie fragte für ihre „Ostfriesen Heritage Society“ an, ob sie das Rezept für ein ostfriesisches Kochbuch verwenden dürfe. Es ergab sich ein Kontakt – und beide entdeckten ihr Verwandtschaftsverhältnis.