Die Abhärterin Der Körper muss reagieren lernen
Wasser, Wind, Sonne: „In der Klimatherapie nutzen wir das, was wir auf Norderney umsonst bekommen“, sagt Abhärtungstrainerin Karin Rass. Sie meint: Wer körperlich was aushält, wird auch mental stärker.
Norderney - Jeden Montag, Mittwoch und Freitag trifft sich um 13 Uhr eine Handvoll hartgesottener Norderneyer zum Luftbaden und zum Bad im Meer. Egal, zu welcher Jahreszeit, egal, wie windig, kalt und regnerisch es ist. Gäste sind herzlich willkommen.
Sich etwas zumuten, statt sich zu schonen
Die Osteopathin, Heilpraktikerin und Thalasso-Therapeutin Karin Rass schwört auf die Klimatherapie. „Wasser, Wind, Sonne: Hier auf Norderney bekommen wir das alles ganz umsonst“, sagt sie. „Verwöhnte Großstadtkörper müssen wieder lernen, auf Reize zu reagieren.“ Jedes Mal koste es Überwindung in eiskaltes Wasser zu gehen. „Sich etwas zumuten, statt sich zu schonen, etwas aushalten, anstatt alles von sich fernzuhalten – das macht stark“, sagt Karin Rass. Sie ist überzeugt, dass mit regelmäßigem Training nicht nur Infekte keine Chance mehr haben, sondern auch Stress besser bewältigt werden kann.
Am Anfang eines jeden Trainings steht das Luftbaden. Die Teilnehmer ziehen sich am Weststrand bis auf die Badesachen aus, bewegen sich, machen leichte Gymnastik. Im Winter behalten sie Mützen, Handschuhe und Schuhe an. „Die Extremitäten haben nur wenige Kälterezeptoren. Der Körper kann am besten dort trainiert werden, wo sich die meisten Kälterezeptoren befinden, nämlich im Nasen-Rachen-Mund-Dreieck“, erläutert Rass.
Nach 40 Sekunden fluten die Glückshormone
Dann folgt der Gang ins Meer. „Nach 40 Sekunden werden Glückshormone ausgeschüttet und man möchte ewig im Wasser bleiben. Aber das ist gefährlich“, warnt Rass, die ihre Badenden genau im Blick behält und sie wieder aus dem Wasser scheucht, wenn sie bemerkt, dass das zweite Frieren einsetzt. „Zum zweiten Frieren sollte es erst gar nicht kommen, sonst holt man sich schnell einen Schnupfen“, sagt die Abhärtungstrainerin. Ziel sei es, den Körper dazu zu bringen, eine Kerntemperatur von 37 Grad beizubehalten.
Neulinge führt Karin Rass Schritt für Schritt und ganz individuell an die Klimatherapie, einem Teil der Thalassotherapie, heran. Zunächst informiert sie sich darüber, in welchem Gesundheitszustand sich die Teilnehmer befinden. Sind sie bereits abgehärtet und duschen beispielsweise jeden Tag kalt? Oder sind sie eher kränklich? Nehmen sie Medikamente?
In Badezeug, aber mit Mützen und Schuhen
Beim Luftbaden ziehen Anfänger zunächst nur die Jacke aus, dann den Pullover. Und auch im Meer gehen sie erstmal nur mit den Füßen ins Wasser, dann bis zu den Knien und so weiter. „Insbesondere kränkliche Personen sollten ganz langsam anfangen, sonst werden sie von den Reizen überflutet, und das kann eine gegenteilige Wirkung haben“, sagt Rass.
Sie berichtet von einem Asthmatiker, der gleich nach seiner Ankunft auf der Insel an den Strand ging und dort einen derart heftigen Asthmaanfall erlitt, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. „Die Aerosole haben Schleim aus den Bronchien gelöst und den Anfall ausgelöst. Er hat die ,Naturarznei Klima‘ zu schnell und zu hoch dosiert eingenommen “, sagt sie.
Die Reize wirken sich ihrer Meinung auf den ganzen Körper aus. „Die Durchblutung wird verbessert, die Infektanfälligkeit sinkt, das Gehirn schüttet Endorphine aus“, beschreibt die Heilpraktikerin die vielfältigen Wirkungen. Und nicht nur das: „Wer lernt, sich zu überwinden, auch unangenehme Reize auszuhalten und sich mit ihnen zu arrangieren, wer lernt, sich selbst wahrzunehmen, der kommt besser mit Stress klar. Der merkt dann eher, wenn beispielsweise am Arbeitsplatz etwas nicht stimmt und wird sich ohne Angst für seine Belange einsetzen“, ist Karin Rass überzeugt.