75 Jahre Grundgesetz Ein Gruß vom Upstalsboom

Rico Mecklenburg
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Eine Kolumne von Rico Mecklenburg
| 22.05.2024 15:20 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Rico Mecklenburg, Präsident der Ostfriesischen Landschaft, hält die Werte des Grundgesetzes hoch – für unser Foto auch im wörtlichen Sinn. Foto: Ortgies
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Rico Mecklenburg, Präsident der Ostfriesischen Landschaft, hält die Werte des Grundgesetzes hoch – für unser Foto auch im wörtlichen Sinn. Foto: Ortgies
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Das Grundgesetz wird am 23. Mai 75 Jahre alt, die „Friesische Freiheit“ gibt es bereits seit mehr als 700 Jahren. Was sie der Verfassung voraushatte, erklärt Landschaftspräsident Rico Mecklenburg in einem Gastbeitrag.

Heute, am 23. Mai, feiern wir den 75. Geburtstag des Grundgesetzes, unserer Verfassung, um die wir weltweit beneidet werden. Dieses Grundgesetz war und ist Grundlage für die friedlich-freiheitlich-demokratische Entwicklung unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die ist alles in allem auch gut gelungen. Eine so lange Zeit in Frieden, Demokratie, Freiheit und Wohlstand hat es in Deutschland noch nie zuvor gegeben. Generationen in unserem Land können dafür sehr dankbar sein. Ich bin es jedenfalls. Die Grundrechte der Menschen stehen im Grundgesetz an erster Stelle und sind besonders garantiert. Aber Freiheit und Demokratie sind keine Geschenke, die man auf Dauer besitzt, sondern sie bedeuten Chance und Verantwortung. Eine Chance, die weltweit längst nicht alle Menschen haben. Deshalb ist es umso mehr unsere Aufgabe, damit verantwortungsvoll umzugehen, damit wir sie nicht verlieren.

Friesen entwickelten ein Gegenmodell zur Feudalgesellschaft

Das Grundgesetz ist eine Verfassung mit großer demokratischer Tradition. Wesentliche Elemente dieser Tradition sind auch in der Geschichte Ostfrieslands zu erkennen. In diesem Zusammenhang blicken wir gerne stolz zurück auf die „Friesische Freiheit“. Vor gut 1000 Jahren wurden Rechte der Friesen in den „gemeinfriesischen siebzehn Küren“ festgelegt. Auf dem Waldweg zum ehemaligen Kloster Ihlow sind sie in einer Installation auf großen Bannern zu lesen.

Die Friesen entwickelten seit der Mitte des 12. Jahrhunderts ein Gegenmodell zur sonst in ganz Europa üblichen feudalen Gesellschaftsstruktur. Feudale Macht festigte sich in weiten Teilen Europas, nicht aber bei den Friesen. Hier entstanden freie Landesgemeinden mit genossenschaftlichen Strukturen und gewählten oder ausgewählten Vertretern, den Redjeven. Die Friesen waren frei. Sie kannten keine Lehnsherrschaft, keine Grundherrschaft und keine Leibeigenschaft, mussten also keinem Landesherrn gehorchen. Sie regelten ihre Angelegenheiten selbst.

Jährliche Treffen am Upstalsboom

Das gab es nur in den Siedlungsgebieten der Friesen an der Nordseeküste. Die Freiheit, ein Grundelement unserer Gesellschaft und ein Grundbedürfnis der Menschen, hatte sich bei uns etabliert. Zur Blütezeit der „Friesischen Freiheit“ um 1300 bestanden die friesischen Länder, die Sieben Seelande, aus 27 Landesgemeinden.

Die Vertreter dieser Landesgemeinden vom Land Wursten, nördlich von Bremerhaven, über Ostfriesland bis in die nördlichen Niederlande trafen sich einmal im Jahr am Dienstag nach Pfingsten am Upstalsboom in Rahe bei Aurich. Dieser gesamtfriesische Versammlungsplatz wurde von Ubbo Emmius, dem berühmten friesischen Geschichtsschreiber, als „Altar der Friesischen Freiheit“ bezeichnet. Dort wurden gemeinsame Angelegenheiten geregelt, Streitigkeiten beigelegt und Gesetze beraten. Von dort, einem Ort mit sehr frühen Ansätzen von Demokratie, kommt eine herzliche Gratulation zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes.

Wie Ostfriesland zu einem Ständestaat wurde

Das Phänomen der „Friesischen Freiheit“ fand in der unruhigen Häuptlingszeit ein Ende. Sie wiederum mündete in der Etablierung einer Reichsgrafschaft im Jahr 1464. In der von Kaiser Friedrich III. ausgestellten Urkunde wurde den „gemeinen Ostfriesen“ aber versichert, dass alle Rechte und Freiheiten, die sie seit Vorzeiten besaßen, auch weiterhin ihre Gültigkeit behalten sollten. Diese Urkunde war zugleich der Geburtsschein der Ostfriesischen Landschaft. Sie entwickelte sich zur Vertretungskörperschaft der drei Landstände. Allerdings bei uns ohne einen geistlichen, dafür aber mit einem gleichberechtigten bäuerlichen Stand – eine absolute Ausnahme im Deutschen Reich.

Über die staatliche Macht, Steuerhoheit, Gesetzgebung und Rechtsprechung verfügten die Stände. Die Grafen- und Fürstenfamilie Cirksena regierte nicht absolut. Die Cirksenas waren lediglich Repräsentanten Ostfrieslands. Ostfriesland war zu einem Ständestaat geworden, ganz im Gegensatz zu dem monarchischen Nachbarn Oldenburg und dem von Fürstbischöfen regierten Münsterland. In den Niederlanden entwickelte sich im Laufe der Zeit eine staatliche Macht, die der in Ostfriesland ähnelte. Diese Ähnlichkeiten führten zu wichtigen Verbindungen der Stände in Ostfriesland zu den Ständen in den Niederlanden, den Generalstaaten.

Die selbstbewusste Haltung der ostfriesischen Stände lebte fort

Im Osterhusischen Akkord von 1611 festigten die Stände auf Druck und Vermittlung der niederländischen Generalstaaten ihre Stellung deutlich. Die Grafschaft Ostfriesland wurde vertraglich quasi zu einer repräsentativen Demokratie, mit Ansätzen von Gewaltenteilung. Die Grafen und Fürsten von Ostfriesland waren in der Folgezeit finanziell vollständig von den Ständen abhängig.

Die freiheitliche und selbstbewusste Haltung der Stände in Ostfriesland zeigte sich auch in der revolutionären Zeit um 1848. Die Ständeversammlung verabschiedete am 18. Mai 1848 eine Grußadresse an die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Darin rühmten sich die nach uralter Sitte zum Mai-Landtage versammelten Friesen der heiligen Sache der Volksherrschaft als ihres Vätererbes. In der Grußadresse schwärmten sie vom Upstalsboom für ganz Deutschland, vom Baum deutscher Freiheit. Von der Selbstherrschaft des auferstandenen deutschen Volkes ist die Rede und auch die altfriesische Begrüßung „Eala frya Fresena“ wird in der Grußadresse benannt.

Die Demokratie steht heute auf dem Spiel

Diese Beispiele einer freiheitlich-demokratischen Tradition in Ostfriesland belegen unsere starke Verbindung zu den Grundpfeilern unserer heutigen Verfassung, dem Grundgesetz: Freiheit, Selbstbestimmung, Gewaltenteilung und Demokratie. Wesentliche Errungenschaften blieben in Ostfriesland über Jahrhunderte erhalten und sind noch heute bei der Ostfriesischen Landschaft erkennbar.

Heute stehen der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Demokratie in Deutschland auf dem Spiel. Feinde eines friedlichen und demokratischen Zusammenlebens ziehen auch so wichtige Errungenschaften wie die europäische Einigung in Zweifel. Ein geeintes Europa war und ist aber für Generationen Garant für Frieden und Wohlstand. Unsere Pflicht ist es jetzt, Europa, die Freiheit und die Demokratie zu bewahren, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen und an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Dem Grundgesetz wünsche ich zum 75. Geburtstag eine gute Zukunft und Glück. Mögen die Verfassungsartikel weiter mit Leben gefüllt und für alle Menschen gleiche Geltung erreichen, damit auch nachfolgende Generationen zu den Geburtstagen des Grundgesetzes Grund zum Feiern haben.

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