Präses Frank Wessels „Wir müssen uns von der alten Form der Kirchensteuer verabschieden“
Frank Wessels wurde zum Präses des Synodalverbands nördliches Ostfriesland wiedergewählt. Im Interview spricht er über den Bedeutungsverlust der Kirche und warum die Kirchensteuer hinfällig ist.
Suurhusen - Frank Wessels ist Pastor der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Suurhusen und seit 2018 Präses des Synodalverbands Nördliches Ostfriesland. In diesem Amt ist der 51-Jährige zuständig für etwa 28.000 Mitglieder in 35 Kirchengemeinden in Emden, Hinte, Borkum, Aurich, Norden, Simonswolde, Bedekaspel und in der Krummhörn. Am Freitag, 7. Juni 2024, wurde Wessels in seinem Amt für weitere sechs Jahre wiedergewählt. Im Interview mit dieser Zeitung spricht er über die Herausforderungen seiner Arbeit, den Bedeutungsverlust der Kirche und die Konsequenzen der Forum-Studie über sexualisierte Gewalt.
Moin Herr Wessels. Bei Ihrer Einführung als Präses des Synodalverbands Nördliches Ostfriesland haben Sie 2018 gegenüber dieser Zeitung gesagt, es stünden große Umbrüche an. Wie steht es jetzt, sechs Jahre später, mit diesen Umbrüchen?
Frank Wessels: Also die Umbrüche haben tatsächlich stattgefunden. Wir haben, was die Versorgung der Kirchengemeinden mit Pfarrpersonen betrifft, wirklich große Wechsel erlebt und in den vergangenen sechs Jahren zehn Pastorinnen und Pastoren verabschiedet und acht Stellen neu besetzt. Dabei war es nicht so, dass jede Pfarrstelle, die freigeworden ist, umgehend und so wie sie vorher war wieder besetzt wurde, sondern wir mussten auch Pfarrstellen streichen. Das hat vorausgesetzt, dass sich viele Gemeinden erst einmal neu zusammensetzen und neu finden mussten. Und das hat den ganzen Synodalverband wirklich gut beschäftigt.
Nach welchem Konzept handelt die Synode denn da?
Wessels: Früher war es so, dass die Frage mit den Pfarrstellen allein von der Gesamtkirche entschieden wurde. Und das wurde innerhalb dieser Legislaturperiode verändert. Man hat diese Aufgabe in die Synodalverbände gelegt. Wir haben jetzt eine Zahl ermittelt bekommen, wie viel Pfarrstellen wir haben und können sie entsprechend den Gegebenheiten vor Ort selber einteilen. Das ist der sogenannte Pfarrstellen-Freigabe-Beschluss. Den haben wir im Nördlichen Ostfriesland relativ zeitnah und zügig verwirklicht. Das ist total gut, weil wir dadurch eine Perspektive haben. Bei den Ruheständen, die in den nächsten Jahren anstehen, da ist die Zukunft der Gemeinden eigentlich schon geklärt. Da fällt keiner irgendwie ins Nichts oder in ein großes Loch. Es ist relativ klar, welche Pfarrstellen in welchem Zuschnitt wieder besetzt werden und welche Pfarrstellen nicht mehr besetzt werden, die Versorgung aber dennoch gesichert ist.
Was würden Sie sagen, waren die größten Herausforderungen in den vergangenen sechs Jahren?
Wessels: Das war sicher dieser personelle Umbruch. Also alles, was damit zu tun hat: die Verabschiedungen in den Ruhestand, die Neubesetzungen, die neuen Zuschnitte der Gemeinden. Das war auch nicht immer selbstverständlich. Es mussten sich also auch Gemeinden zusammenfinden, die sich damit anfangs sehr schwer getan haben. Gleichzeitig ist es jetzt mittlerweile nicht mehr so, dass die Schwierigkeit nur noch darin besteht, dass Pfarrstellen freigegeben werden, sondern vielmehr darin, dass wir diese Stellen auch besetzen können. Der berühmte Fachkräftemangel schlägt sich auch im theologischen Personal durch. Wir haben attraktive Pfarrstellen ausgeschrieben und dann bewirbt sich keiner.
Auf der anderen Seite haben wir ja auch noch unsere diakonischen Einrichtungen, wo es nicht anders ist. Wenn da jemand in Ruhestand geht oder sich beruflich verändert, ist es unglaublich schwierig, Personal wiederzubekommen. Das ist teilweise wirklich dramatisch, dass man einfach keine Leute mehr findet.
Welcher Umbruch steht jetzt bevor, in den kommenden sechs Jahren?
Wessels: Ich glaube, dass auf die Kirche insgesamt viele Veränderungen zukommen. Innerkirchlich ist es so, dass wir den Bedeutungsverlust der Kirchen zur Kenntnis nehmen müssen, der ist einfach da. Die Bindung an die Kirche lässt immer weiter nach, da sprechen die Zahlen für sich. Im Osten Deutschlands ist es so, dass 77 Prozent der Menschen sagen, Kirche hat keine oder kaum noch Bedeutung. Sowohl für den Einzelnen, aber auch nicht für die Gesellschaft allgemein. Dieser Trend ist bei uns zwar Gott sei Dank noch lange nicht so stark. Aber auch wir merken ihn und da müssen wir gucken, was wir da machen können, um diesen enormen Bedeutungsverlust auffangen zu können. Die Bindung lässt nach, die Menschen treten viel schneller aus als früher und dann ist da auch noch der Verlust an Relevanz in der Gesellschaft. Dass man unsere Stimme auch nicht mehr so hört.
Was meinen Sie damit konkret?
Wessels: Wir sehen wirklich deutlich, wie die Traditionen wegbrechen. Kirchliche Trauungen sind zum Beispiel sehr selten geworden. Da ist es schön, wenn sich ein Paar überhaupt noch dafür interessiert. Und wenn man dann fragt, welche Lieder gesungen werden sollen, sieht man oft großes Staunen. Und dann heißt es, wir hätten lieber etwas vom Band oder vom Sänger. Das will ich jetzt nicht kritisieren und schon gar nicht verurteilen. Aber daran merkt man eben den Traditionsabbruch und dass vieles nicht mehr selbstverständlich ist.
Und dann ist es natürlich so, dass es auch immer noch den Gedanken gibt, dass man, wenn man die Leistung der Kirche in Anspruch nehmen möchte, auch Mitglied der Kirche sein muss. Aber genau das wird ja immer weniger.
Welche Lösungen schweben ihnen für diesen Wandel vor?
Wessels: Ich glaube, dass wir flexibler sein müssen. Dass wir andere Möglichkeiten der Teilhabe und der Mitgliedschaft ermöglichen müssen, als wir das im Moment haben. Wir haben als Volkskirche in den letzten Jahren wirklich gut von dem Kirchensteuersystem gelebt, das ist gar keine Frage. Aber ich meine, dass wir so langsam an den Punkt kommen, dass sich dieses System perspektivisch nicht mehr trägt. Deshalb glaube ich, dass wir zumindest mittelfristig über ein ganz neues Finanzierungssystem nachdenken müssen.
Wie könnte so ein neues Finanzierungssystem aussehen?
Wessels: Ich glaube, wir müssen uns tatsächlich von der alten Form der Kirchensteuer verabschieden und mehr in Richtung freiwillige Mitgliedsbeiträge gehen. Das ist natürlich ein weiter Weg, weil die Kirchen ja viele Verpflichtungen haben. Das kann man nicht von heute auf morgen umstellen. Aber der Trend wird sich wohl fortsetzen, dass immer mehr Menschen austreten und viele die Kirche nur noch punktuell nutzen wollen. Da erschließt sich ihnen nicht, warum sie dafür jeden Monat 50 oder 100 Euro Kirchensteuer zahlen müssen. Aber wenn sie die Kirche mal brauchen, dann wären viele auch bereit, dafür zu bezahlen. Aber diese Möglichkeiten sieht unser System im Moment gar nicht vor. Da werden wir mittelfristig andere Wege gehen müssen.
Das alles bringt aber nichts, wenn die Kirche es nicht schafft, relevant zu werden. Wie soll das gelingen?
Wessels: Das ist tatsächlich das ganz Entscheidende. Da sind die Fragen der Finanzierung und der Struktur eigentlich fast nachrangig. Wir müssen diesen Bedeutungsverlust aufhalten und umkehren. Und da sind wir als Kirche vor Ort gefragt. Es ist unsere Aufgabe, wieder Vertrauen zu schaffen. Und das andere ist, dass wir als Kirche wieder unsere Stimme erheben müssen, viel deutlicher, als wir das jetzt tun. Da ist zum Beispiel die Angst vor dem Krieg. Wir müssen uns als Kirche viel deutlicher zum Frieden bekennen. Dann ist da die Frage der Finanzen, die Sorge ums tägliche Brot. Wir sehen, dass immer mehr Menschen in Armut abgleiten. Wir müssen als Kirche auch da präsent sein und das Thema laut machen und uns mehr für die Menschen einsetzen. Nicht nur durch Sonntagsreden, sondern auch durch konkrete Hilfen. Auch beim Thema Rechtsradikalismus. Wer rechtsradikal wählt, der beschreitet einen Weg ins Elend. Da müssen wir einfach Flagge zeigen und pointierter unsere Meinung aussprechen. Das Evangelium von Jesus Christus fordert uns in aller Form dazu auf.
Stichwort Forum-Studie über sexualisierte Gewalt. Als diese Studie Anfang des Jahres veröffentlich wurde, sagten Sie, Sie würden sich für Ihre Kirche schämen, von der Sie Teil sind. Wie gehen Sie mittlerweile mit diesem Gefühl um?
Wessels: Ich sehe es bis heute so, dass wir zu viele Menschen tief und schwer verletzt und enttäuscht haben. Das beschämt mich heute immer noch.
Damals hat die evangelische Kirche eine Erklärung zur gemeinsamen Haltung gegenüber sexualisierter Gewalt veröffentlicht. Oft hat man ja das Gefühl, es wird drüber gesprochen, die Empörung ist groß, doch passieren tut nichts. Ist seitdem etwas passiert?
Wessels: Also ich glaube schon, dass durch die Kirche ein Ruck gegangen ist, und dass uns das, hoffe ich, alle betroffen gemacht hat. Und es gibt tatsächlich sehr konkrete Verabredungen. Also es wurde zum Beispiel die Stelle eingerichtet zur Prävention sexualisierter Gewalt und in unserem Synodalverband haben alle Mitarbeitenden aus allen Bereichen eine Schulung gemacht zur Prävention sexualisierter Gewalt. Außerdem müssen alle Kirchengemeinden, alle Synodalverbände, alle Einrichtungen bis zum Jahresende 2025 ein Konzept vorlegen, damit sexualisierte Gewalt nicht wieder vorkommt. Da sind wir praktisch dran und ich glaube, dass eine Sensibilisierung stattgefunden hat. Das hat auch richtig wehgetan. Aber das war notwendig, um festzustellen, dass es so etwas auch bei uns gibt. Dafür schämen wir uns. Und wir tun alles dafür, dass das nicht mehr vorkommt.
Trotz alldem: Warum lieben Sie Ihren Job so sehr, dass Sie sich für weitere sechs Jahre haben aufstellen und wählen lassen?
Wessels: Der Job ist nicht immer ganz leicht, das stimmt schon. Aber aktiv mitarbeiten zu können, diese Herausforderungen zu meistern und sich auch diesen Fragen zu stellen, das finde ich nach wie vor wichtig. Also sich nicht in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, sondern zu sagen, ich pack das aktiv mit an und ich versuche, so gut es geht, meinen Beitrag dazu zu leisten.