Von Ostfriesland nach Berlin Unterwegs mit der TBS Leer – Einblicke in die Lebenshilfe-Meisterschaft
Eine Fahrt der besonderen Art: 30 Schüler der TBS Leer erleben Berlin und nehmen an der 1. offenen Meisterschaft der Lebenshilfe teil. Einblicke in Herausforderungen und Erfolge.
Leer/Berlin - Vier Tage lang war ich mit 30 Schülerinnen und Schülern der staatlich anerkannten Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe in Leer (TBS) und ihren 15 Lehrkräften in Berlin. Anlass war die 1. offene Meisterschaft der Lebenshilfe, eine Sportveranstaltung mit 1200 Teilnehmern aller Altersklassen. Die Schülerinnen und Schüler aus Ostfriesland, elf bis 19 Jahre alt, haben alle Förderbedarf in der geistigen Entwicklung und einige von ihnen waren noch nie auf so etwas wie einer Klassenfahrt, einige waren auch noch nie mehrere Tage ohne ihre Eltern irgendwo.
Zunächst eine persönliche Anmerkung: Ich hatte bislang wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Daher mögen die folgenden Zeilen für Erfahrene etwas unbeholfen klingen. Ich bitte um Nachsicht.
30 Schülerinnen und Schüler entdecken Berlin
Die Tage wurden von mir in einem Liveblog online dokumentiert. Das klang oft wie eine Klassenfahrt an einer Regelschule. Doch es war auch anders.
Beeindruckt von Berlin, ein bisschen gelangweilt vom Bundestag, genervt ohne Essen, fröhlich herumalbernd oder Heimweh habend: die Schülerinnen und Schüler der TBS Leer unterschieden sich erstmal kaum von anderen jungen Leuten.
Anders und doch ganz „normal“
Doch die Schülerinnen und Schüler der TBS sind „normal“ und „anders“ zur gleichen Zeit. Sie alle haben Förderbedarf in der geistigen Entwicklung. Manche können kaum verbal kommunizieren, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht kommunizieren. Im Gegenteil. Schnell wurde ich Teil der Gruppe. Beispielsweise wollte Roua ständig meine Fotos sehen, Jan rechnete mir vor, wie lange wir noch in Berlin sind. Julian wollte fotografiert werden und Yasmin konnte zwar nicht sprechen, aber ihr Lachen war ansteckend.
Manche sind auf dem Autismusspektrum, andere haben FASD - Fetale Alkoholspektrumstörung. FASD ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Schädigungen eines Kindes, die durch Alkohol- oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft verursacht wurden, so die Wikipedia. Auch das RETT-Syndrom, eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, Störungen mit starker ADHS-Symptomatik und Kinder mit „Fragilem-X-Syndrom“ sind in der Gruppe zu finden.
Es sind die gleichen Schüler, die gerne Schlager hören und die, die Schlager so gar nicht mögen; Auto- und Landwirtschaftsfans sind mit dabei; Kinder mit Plüschtier und ohne; Handydaddler und Handyscroller.
Ein epileptischer Anfall im Bundestag
Doch es hat auch seine Gründe, warum auf zwei Schülerinnen und Schüler eine Lehr- und Fachkraft kommt. Das zeigte sich im Bundestag, beim Essen. Eine der Jugendlichen hatte einen epileptischen Anfall, sie krampfte, lag auf dem Boden. Nicht, wie man sich das vielleicht vorstellt, sondern in einem „ruhigen Krampf“. Und ebenso ruhig waren auch alle um sie herum.
Frauke Schröder, eine der Lehrkräfte, erklärte mir das so: „Wenn wir jetzt anfangen, aufgeregt zu sein, dann überträgt sich das sofort auf die Gruppe.“ Und die war zu diesem Zeitpunkt sowieso schon unruhig, weil sie schon mehrere Stunden unterwegs war.
Professionalität und Ruhe
Für unerfahrene Außenstehende wie mich ist diese Erklärung zwar einleuchtend, die Situation war aber dennoch sehr ungewöhnlich, fast schon etwas skurril. Während sich drei Lehrkräfte um die Schülerin kümmerten, sind andere aus der Gruppe in direkter Umgebung am Essen, unterhalten sich.
Was unbeteiligt klingt, ist ein Zeichen von Professionalität und auch von Normalität. Nicht umsonst werden die Schülerinnen und Schüler von Profis betreut. Außerdem wisse jeder im Team, welche Schritte bei Anfällen zu machen sind und wie die Situation einzuschätzen ist. „Wir wissen, dass das innerhalb von vier Tagen mindestens einmal passieren wird“, wurde mir erklärt. Ein paar Stunden später, nach einer Mütze voll Schlaf, war die Schülerin wieder auf den Beinen, ging mit ihrer Gruppe noch kurz in die Stadt.
Voller Einsatz, rund um die Uhr
Was ich als „Herausforderungen“ bezeichnen würde, ist für die Lehrkräfte an der TBS Leer Alltag, bis zu einem gewissen Grad völlig normal. Sie kennen ihre Schülerinnen und Schüler, lieben ihren Job so wie viele Lehrkräfte es tun. Und sie kümmern sich um Kinder und Jugendliche, die alle ganz individuell sind. So wie alle Lehrkräfte an allen Schulen. Wobei die Fahrt zur offenen Meisterschaft auch für die Lehrkräfte herausfordernd war. Pflege, Hilfe bei der Körperpflege, immer ein Auge auf die gepackten Sachen haben - und sowohl im Hotel als auch auf dem Sportplatz immer aufteilen und koordinieren, wer mit welchen Gruppen unterwegs ist, wer wen zur Toilette begleitet. Die Gebärde für Toilette ist die erste, die ich auf dieser Fahrt gelernt habe. Nur ein Zimmer konnte ohne dauerhafte Begleitung sein, in den restlichen Zimmern übernachteten Schüler und Lehrkräfte zusammen.
Viel Zeit für sich blieb den Lehrkräften in Berlin wahrlich nicht. Dennoch war die Motivation bis zum letzten Tag hoch, vor allem bei der offenen Meisterschaft – bei brütender Hitze.
Die Schülerinnen und Schüler mussten auch hier immer in Gruppen zu den Wettbewerben begleitet werden, alle traten in der Kategorie Leichtathletik an. Bei teilweise parallelen Starts eine Herausforderung, denn es musste auch angefeuert werden; es musste auf die Bedürfnisse der Schüler eingegangen werden; es musste alles gelenkt und auch unter Kontrolle gehalten werden. Und manche Dinge merkt man erst, wenn es soweit ist, Ein kleines Beispiel: Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den offenen Meisterschaften waren zu viele Markierungen auf der Tartanbahn. Deswegen fiel es ihnen schwer, in ihrer Laufbahn zu bleiben.
Aber es waren alles Anstrengungen, die sich gelohnt haben: Die TBS Leer war erfolgreich wie kaum eine andere Gruppe in der Leichtathletik, die Medaillen waren zahlreich. Und die Schülerinnen und Schüler wuchsen alle über sich hinaus: Sie stellten sich nicht nur den sportlichen Herausforderungen, sondern auch der großen Stadt.
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