Bilanz in Emden Bürgergeld sorgt nicht für explosionsartig mehr Arbeitslose

| | 20.06.2024 16:55 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Nach der Einführung des Bürgergelds wurden in Emden nicht explosionsartig mehr Anträge auf die Leistung ausgefüllt. Symbolfoto: Jens Kalaene/dpa
Nach der Einführung des Bürgergelds wurden in Emden nicht explosionsartig mehr Anträge auf die Leistung ausgefüllt. Symbolfoto: Jens Kalaene/dpa
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Seit dem 1. Januar 2023 kann das Bürgergeld bezogen werden. Kritiker meinen oft, die Arbeitslosigkeit würde dadurch explodieren. Das stimmt so nicht. Im Jahr 2024 aber gibt es einen Anstieg.

Emden - Nach der Einführung des Bürgergelds arbeitet ja eh niemand mehr. Das hörte und hört man häufig von Kritikern des Gesetzes zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Es wurde am 1. Januar 2023 eingeführt und gewährt den Leistungsempfängern einen höheren Regelsatz als der Vorgänger Arbeitslosengeld II oder umgangssprachlich „Hartz IV“.

Aber ist die Arbeitslosenzahl seitdem tatsächlich in die Höhe geschossen - beispielsweise in Emden? Als größte Stadt Ostfrieslands und damit eine wichtige Anlaufstelle für Menschen aus dem Umland, die ihren Job verlieren, in finanzielle Not geraten und eine günstigere Wohnung suchen, sind in Emden die Arbeitslosenzahlen meist höher als im Rest der Region. Daher bietet sich hier der Blick besonders an.

So war die Entwicklung vor dem Bürgergeld

Bernd Leiß, Geschäftsführer des Jobcenters in Emden, holte im Gesundheitsausschuss des Emder Rats am 19. Juni 2024 etwas weiter aus, um die Situation zu erklären. 2005 war „Hartz IV“ eingeführt worden. Mit einer Grafik zeigte er auf, dass kurz nach der Einführung die Zahl der Empfänger von „Hartz IV“ anstieg und Leistungen zur Arbeitsförderung (SGB III) weniger abgefragt wurden. Insgesamt waren mehr als 3500 Menschen arbeitslos gemeldet. Die Zahl der davon mehr als 2500 Hartz-IV-Empfänger in Emden 2006 fiel aber schnell wieder ab. Im Jahr 2012 lag sie bei knapp 1600. Die Grafik zeigte auch Spitzen in der Arbeitslosigkeit, die durch weltpolitische Ereignisse ausgelöst wurden. 2015/16 war es der Syrien-Krieg und die Ankunft von vielen Geflüchteten in Emden. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger stieg dann auf mehr als 1700. Leistungen nach SGB III wurden 2016 von mehr als 600 Menschen in Emden bezogen.

Die Zahlen gingen danach wieder runter - und stiegen mit der Corona-Pandemie 2020 an. „Die Schutzschirme haben funktioniert, sonst wären die Zahlen dermaßen explodiert“, so Leiß. Arbeitslosengeld wurde weniger abgefragt als die Leistungen zur Arbeitsförderung. Die Zahl der Empfänger stieg da auf mehr als 800. Obwohl man den Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ab Februar 2022 deutlich gemerkt habe, sei er in der Emder Kurve nicht so sichtbar, „weil es eine extrem gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gab, die das ausgeglichen hat“, so Leiß. Demnach stieg die Zahl der Hartz-IV-Empfänger auf rund 1600, SGB III wurde von rund 900 abgefragt. Insgesamt ist laut Grafik seit 2006 die Zahl der Arbeitslosen insgesamt um fast 40 Prozent bis Dezember 2023 gesunken. Es gibt 37,5 Prozent weniger arbeitslose Empfänger vom Arbeitslosengeld und 42,2 Prozent weniger arbeitslose Empfänger von SGB III.

Wie ist es seit dem Bürgergeld?

Bernd Leiß erklärt auf Nachfrage dieser Zeitung, dass es im Jahr 2023 keinen besonderen Anstieg der Zahl von Leistungsempfängern des neuen Bürgergelds in Emden gegeben habe. Vom Dezember 2022 bis Januar 2023 habe es einen marginalen Anstieg im einstelligen Bereich gegeben. Anfang 2024 sehe das etwas anders aus.

Liegt das am Bürgergeld oder einer allgemein konjunkturschwachen Zeit unter anderem mit Krisen beim Absatz des VW-Werks in Emden? „Das kann ich nicht seriös beantworten“, sagt Leiß. Man müsse das langfristiger beobachten und sehen, ob sich der Trend verfestige oder doch wieder weniger Menschen die Leistung in Anspruch nehmen.

Was sagen die Zahlen genau?

3613 Menschen waren im Dezember 2023 erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Emder Jobcenter. Das ist nicht gleichzusetzen mit Arbeitslosen. Denn: 728 Personen bekamen zusätzlich zu einer regulären Beschäftigung Bürgergeld, so Bernd Leiß im Ausschuss. Ab einer Beschäftigung von 15 Arbeitsstunden die Woche gilt man nicht als arbeitslos, das verdiente Geld aber reicht für den Unterhalt nicht aus, erklärt er. 700 Personen, hauptsächlich Frauen, erhielten Bürgergeld, waren wegen Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen aber nicht als arbeitslos gemeldet. 504 Menschen bezogen die Leistung, waren aber bereits in Maßnahmen, um sie für den Arbeitsmarkt fit zu machen, und daher nicht als arbeitslos gemeldet. 1554 Personen waren als arbeitslos eingetragen.

Aktuell (Stand Mai 2024) beziehen laut der Bundesagentur für Arbeit 1703 arbeitslose Menschen das Bürgergeld, also rund 150 mehr als im Dezember 2023. Die Zahl der Leistungsberechtigten, die nicht als arbeitslos gemeldet sind, ist hier nicht genannt. 954 bekommen SGB III. Schaut man sich den Mai 2022 an, also vor der Einführung des Bürgergelds, dann bezogen zu der Zeit rund 1650 Arbeitslose „Hartz IV“. Nur 543 Personen nutzten Leistungen nach dem SGB III. Im Mai 2023, also wenige Monate nach Einführung des Bürgergelds, waren es 1626 arbeitslose Leistungsbezieher für das Bürgergeld, 500 nahmen das SGB III in Anspruch.

Klickt man sich auf der Seite der Bundesagentur durch die Monate seit Einführung des Bürgergelds, wird deutlich, dass die Schwankungen nicht extrem sind. Die Unterschiede bei der Leistung zur Arbeitsförderung, also SGB III, sind größer. Die sehr übersichtliche Statistik-Seite des Bundesagentur reicht bis Mai 2021 zurück. Dass nun deutlich mehr arbeitslose Menschen Bürgergeld nutzen, kann anhand der dortigen Zahlen nicht belegt werden. Im September 2022 beispielsweise lag die Zahl der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger bei 1756. Der höchste Wert in der Tabelle.

Neuer Fokus beim Bürgergeld

Fast 90 Prozent der aktuellen Arbeitslosen im Jobcenter würden als „besonders förderungsbedürftig eingestuft“, erklärte Bernd Leiß im Ausschuss. Das könne sich auf Langzeitarbeitslosigkeit, Schwerbehinderung, das Alter (ab 55 Jahre), eine Berufsrückkehr oder geringe Qualifizierung beziehen. Die Berufsqualifizierung stehe beim Bürgergeld mehr im Fokus als die schnelle Arbeitsvermittlung.

Denn: 20 Prozent der ungelernten Arbeitskräfte seien arbeitslos, während es bei den ausgebildeten nur zwei Prozent seien, so Bernd Leiß. Mit einer Qualifizierung werde nachhaltig und langfristig gedacht. Die Arbeitsvermittlung sei ein Marathon für viele, kein Sprint.

Mit Sorge betrachte er die Diskussion um den Bundeshaushalt, sagte der Jobcenter-Leiter. Würden ihre Mittel - wie bislang angekündigt - von rund zehn Millionen Euro um rund zwei Millionen Euro gekürzt, dann müsse man nicht mehr über besondere Instrumente zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sprechen. Dann könne sich das Jobcenter nämlich hauptsächlich noch um die unbedingt notwendigen Maßnahmen kümmern.

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