Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Erinnerungen an eine Kindheit im Compagniehaus am Kanal
Christa Kortmann-Titze war eine der letzten Bewohnerinnen des Compagniehauses von Westgroßefehn. 1954 wurde sie in dem Haus geboren. Nach einem Brand am Schornstein wurde es 1965 abgerissen.
Großefehn - Der Tisch ist voller alter Fotos. Schwarz-weiße Aufnahmen von einer längst vergangenen Zeit. Christa Kortmann-Titze hat einiges angesammelt an Familienbildern und Erinnerungen an eine Kindheit in Westgroßefehn. „Das Leben mit dem Kanal“, sagt die 70-Jährige, habe sie geprägt. 1954 wurde sie geboren, im ersten Compagniehaus von Großefehn. Ihrem Elternhaus. Das Haus in Westgroßefehn stand einst in unmittelbarer Nähe zu Schleuse, Onkenscher Mühle und Eiland, dem heutigen Fehnmuseum. Dort, wo die Leerer Landstraße auf den Ikenbültweg trifft. Vor 60 Jahren musste das geschichtsträchtige Gebäude weichen. Es sei eine Auflage der Versicherung gewesen. An ihrem elften Geburtstag musste sie es verlassen. Ihre gesamte Familie hat den Abriss miterlebt: „Die hintere Mauer war noch in Lehm gemauert.“ Alle standen drum herum, als das Haus ihrer Kindheit einstürzte. „Und meine Oma hat geweint.“
Im Compagniehaus pulsierte einst das Leben. Mit der Gründung der Großefehngesellschaft 1633 gehörte es zu den ersten Gebäuden, die gebaut wurden. 1778 wurde es dann neu gebaut. In der Entwicklung der Fehne spielten Compagniehäuser eine zentrale Rolle: Sie waren ein wichtiger Teil der Infrastruktur für die Siedler der Fehne, schrieb einst der Heimatforscher Siegfried Lüderitz. Die soliden Backsteinbauten dienten als Verwaltungssitz, Unterkunft und Schankwirtschaft. Mit dem Voranschreiten der Kultivierung des Moores entstand im Jahr 1802 in Ostgroßefehn ein zweites Compagniehaus. Anders als sein Vorgänger wurde das „Historische Compagniehaus“ in Ostgroßefehn grundlegend restauriert. Karin und Andreas Habben führen den Gastronomiebetrieb seit 1999. Auch in Spetzerfehn gibt es ein Kompagniehaus, das auf die Spetzerfehngesellschaft zurückgeht. Der Schankraum ist längst verwaist, das geschichtsträchtige Gebäude verfällt.
Das Pinkelhaus neben der Gaststätte
Eine Gastwirtschaft gehört zu einem Compagniehaus irgendwie dazu. Die haben einst die Großeltern von Christa Kortmann-Titze geführt, Wilhelmine und Niclas Strüfing. Allerdings kann sich die Frau, die heute in Plaggenburg lebt, nur an die Zeiten erinnern, als es ihre Eltern waren, die im Compagniehaus Gäste empfingen. „Vereinzelt“, wie sie berichtet. Sie erzählt von Bauern, die in den Meeden arbeiteten, Viehhändlern und Gesellschaften. „Ich erinnere mich, wie mein Vater sich ans Klavier setzte. Dann haben wir gesungen.“
Nach dem Tod ihres Großvaters im Jahr 1952 hätten ihre Eltern Martha und Hans Kortmann die Gaststätte nur noch eine Weile weitergeführt. Ihre jüngste Tochter Christa wurde 1954 geboren, als drittes Kind. Damals sei ihre Schwester Elfriede bereits 16 Jahre alt gewesen. Ihr Bruder Klaus zwölf. „Ich war die Lütte.“ Eigentlich habe ihr Vater da schon eine Gärtnerei samt Baumschule betrieben. Irgendwann sei ihnen die Doppelbelastung aus Betrieb und Gastwirtschaft zu viel geworden, dazu die Hege der Familie und die kleine Landwirtschaft. 1958, schätzt sie, sei das gewesen. „Das alte Pinkelhaus“, sie zeigt auf einen unscheinbaren Kasten neben dem Haus, „das gehörte zur Gaststätte“. Und das musste natürlich auch gereinigt werden. Vermutlich keine schöne Aufgabe, wenn es am Abend vorher feuchtfröhlich in der Schankstube zugegangen war. Ihrer Mutter sei das peinlich gewesen, verrät Kortmann-Titze lachend. Darum habe sie das ganz früh gemacht – damit sie ja niemand dabei beobachten konnte.
Mit Autoreifen im Kanal
Dann war Schluss mit der Gastwirtschaft. Der Sommer 1959 sei ein besonders heißer gewesen – und da gab es schon keine Kneipe mehr im Compagniehaus. Das gesamte Leben habe damals draußen stattgefunden. Im Kanal wurde gebadet, sehr zur Sorge ihrer Mutter. „Das Leben am Kanal war gefährlich“, weiß Kortmann-Titze. „Da waren wir Kinder drauf geeicht.“ Immer wieder seien Fehntjer im Kanal ertrunken. Viele konnten damals nicht schwimmen. Auch die Fünfjährige nicht. Die Abkühlung suchte sie dennoch: „Wir gingen dann mit Autoreifen schwimmen.“
Im Winter dann, wenn der Kanal zugefroren war, holten die Fehntjer die Schöfels raus. „Da ging jeder Schlittschuhlaufen.“ Vom Eiland bis nach Timmel – und wieder zurück. Und auch sonst war der Kanal so etwas wie der Mittelpunkt im Dorf: „Der Kanal war für alles da.“ Es war die Tränke fürs Vieh, in seinem Wasser wurden Aale geangelt und mancher entsorgte sogar seinen Unrat darin. „Mein Vater sprang manchmal samstagabends da rein, mit einem Stück Seife.“
Eine kleine, heile Welt
Zum Compagniehaus gehörte damals viel Land: „Wir hatten einen riesen Gemüsegarten“, erinnert sich die letzte Frau, die in dem Haus das Licht der Welt erblickte. Als Selbstversorger hätten sie zudem Schweine und Hühner gehabt, anfangs auch Kühe. „Das war viel Arbeit damals“, weiß sie heute. Großmutter Wilhelmine Strüfing und Mutter Martha Kortmann packten ordentlich an und versorgten neben der Familie auch die Arbeiter der Gärtnerei. „Die saßen alle mit am Tisch“, erinnert sich Christa Kortmann-Titze. „Samstags wurde das Haus geputzt, die Straße gefegt und der Garten geharkt. Sonntags wurde nichts gemacht.“ Darauf habe ihr Vater bestanden.
Vor mehr als 60 Jahren gab es noch deutlich weniger Häuser im Herzen Westgroßefehns. Ihre Freundin Sieglinde wohnte gegenüber auf der anderen Kanalseite, erinnert sich die 70-Jährige. Gemeinsam hätten sie im Sand gespielt. Zu Ostern wurde dort eine Lünsbahn aufgebaut: „Dann kamen alle Kinder des Dorfes.“ (Was es mit der Tradition des Lünsens auf sich hat, steht in diesem Serienteil.) Auch an zahlreiche Besuche im Stall anderer Nachbarn kann sie sich erinnern. Danach habe ihre Schwester Elfriede stets die Nase über den Geruch gerümpft, der ihr anhaftete. „Das war eine wunderschöne Zeit.“ Das Wetter habe sie stets am Stand der Mühle ablesen können und die Kinder hätten genau gewusst, welcher Nachbar ihnen wohlgesonnen war: „Bei Frau Frerichs im Kapitänshaus gab es immer was Süßes.“
Abriss erfolgte aus finanziellen Zwängen
Bei ihrer Tante im Kolonialwarenladen war am Sonntag Treffpunkt für die Fehntjer Kinderschar. „Die hatten den ersten Fernseher im Dorf.“ Eine Stunde lief dann Kinderprogramm: Lassie, Fury oder die Augsburger Puppenkiste. 1959 war das vorbei: Da hatten auch Kortmanns einen eigenen Apparat: „Den hat uns meine Oma spendiert.“ Trotz dieses damaligen Luxusartikels kann sich die gebürtige Westgroßefehntjerin auch gut daran erinnern, dass es nicht immer leicht war. Vermutlich vor allem im Winter, wenn die Gärtnerei nicht viel einbrachte. „Da war das Geld auch knapp.“ In der Backstube und im Schankraum seien im Winter Kränze oder Gestecke entstanden. „Für Totensonntag haben wir bis in die Nacht Kränze gebunden.“
Die Einnahmen aus dem Verkauf wurden dann teils sofort in Lebensmittel eingetauscht. Letztlich waren es auch finanzielle Zwänge, die zum Abriss des Compagniehauses führten. „Das war eine Brandschutzgeschichte“, erläutert Kortmann-Titze. Ein Schornsteinbrand hatte Sicherheitsmängel offenbart. Die Brandkasse habe das alte Gemäuer in dem Zustand nicht versichern wollen. Eine Sanierung war finanziell nicht tragbar. Der einzige Ausweg für die Familie war ein Neubau an anderer Stelle. Zwischen Westgroßefehn und Timmel entstand ein Aussiedlerhof. Das alte Haus aber musste abgerissen werden. „Das war so traurig.“
Das neue Haus auf dem Palland hingegen hatte eine zeitgemäße Ausstattung, erzählt sie. „Wir hatten endlich fließend Wasser, eine Waschmaschine und eine Zentralheizung.“ Und nicht mehr nur ein Plumpsklo am äußeren Ende der Scheune. Oder Wände in der Schlafkammer, an denen im Winter das Eis glitzerte. Dennoch wogen die modernen Annehmlichkeiten nicht die tiefe Verbundenheit auf, die sie zum Compagniehaus, ihrem Geburtshaus, empfunden habe: „Das Haus hat mich mehr geprägt als das spätere.“ Dieses alte Gebäude mit seiner langen Geschichte hat einen festen Platz in ihren Erinnerungen: „Ich höre noch jede Türklinke. Wie die geklungen hat.“ In der Früh sei der Milchwagen mit den zwei großen Pferden das erste gewesen, was sie vernahm. „Das Klötern der Milchkannen weckte mich morgens – und die Gattersäge vom Eiland.“