Arztfehler in Ostfriesland So recherchierten wir den Fall des toten Babys

| | 05.07.2024 10:03 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Marlene Heitz hat nur neun Tage lang gelebt – Grund für ihren Tod waren Behandlungsfehler eines Arztes in einem ostfriesischen Krankenhaus. Foto: Nobel
Marlene Heitz hat nur neun Tage lang gelebt – Grund für ihren Tod waren Behandlungsfehler eines Arztes in einem ostfriesischen Krankenhaus. Foto: Nobel
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Ein Baby, das nur neun Tage lebte, und die fatalen Fehler eines Arztes: Fünf Monate haben wir den Fall Marlene Heitz intensiv untersucht. Hier beantworten wir die wichtigsten Fragen zur Recherche.

Ostfriesland - Es war eine der intensivsten Recherchen in unserer Karriere: Der Fall Marlene Heitz. Ein kleines Baby, das gerade einmal neun Tage alt wurde, weil ein Arzt in einem ostfriesischen Krankenhaus während der Geburt folgenschwere Fehler gemacht hatte. Wir, die Redakteure Daniel Noglik und Ute Nobel, haben uns fünf Monate lang intensiv mit dem Fall beschäftigt. Der Text und der Podcast sind auf unseren Webseiten mittlerweile tausendfach aufgerufen worden. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zur Recherche.

Der Fall

Marlene Heitz kommt am 21. Dezember 2018 in einem ostfriesischen Krankenhaus zur Welt – leblos. Das kleine Mädchen wird reanimiert, auf eine Intensivstation einer Uni-Klinik verlegt. Doch dort kann man nichts mehr für das Baby tun. Neun Tage nach ihrer Geburt stirbt Marlene. Jahre später wird das Landgericht Aurich anhand von zwei Gutachten feststellen, dass der Grund für Marlenes Hirnschäden, die zu ihrem Tod geführt haben, grobe Behandlungsfehler während ihrer Geburt waren. Sowohl der verantwortliche Arzt als auch das ostfriesische Krankenhaus werden zu einer Schmerzensgeld- und Schadensersatzzahlung verurteilt.

Wie sind wir auf den Fall aufmerksam geworden?

Eine Kollegin ist Ende Januar 2024 auf uns zugekommen und hat von einer ostfriesischen Mutter erzählt, die ihr Kind kurz nach der Geburt verloren hat und nun an die Öffentlichkeit gehen wolle. Den ersten Interviewtermin mit der Mutter, Rebekka Heitz, gab es Anfang Februar 2024.

Wie sind wir an unsere Informationen gekommen?

Ausgangspunkt war zunächst ein dreistündiges Interview mit Rebekka Heitz, in dem sie von ihren Erlebnissen während der Geburt, den schlimmen Stunden vor dem Tod ihrer kleinen Tochter und von der Klage gegen den behandelnden Arzt, die diensthabende Hebamme und das ostfriesische Krankenhaus erzählte. Interviews von betroffenen Personen sind natürlich immer subjektiv, unser Anspruch ist aber eine ausgewogene und objektive Berichterstattung. Deshalb war es wichtig, die Aussagen von Rebekka Heitz zu prüfen – in diesem Fall waren uns Gutachten, Gerichtsakten und andere Dokumente dabei behilflich.

Die Mutter von Marlene, Rebekka Heitz, hat uns in einem langen Interview ihre Erlebnisse während der Geburt geschildert. Foto: privat
Die Mutter von Marlene, Rebekka Heitz, hat uns in einem langen Interview ihre Erlebnisse während der Geburt geschildert. Foto: privat

Darüber hinaus haben wir in etlichen E-Mails offizielle Anfragen an das Krankenhaus, die Anwälte des Arztes oder andere Personen aus der lokalen Medizin gestellt.

Schwieriger war es, an Informationen über den verurteilten Arzt und seine Arbeit in dem ostfriesischen Krankenhaus zu kommen. Einige Telefonate liefen ins Leere, weil Personen nicht mit uns über diese Themen sprechen wollten. Immer wieder versuchten wir es bei neuen potenziellen Informanten. Die Hartnäckigkeit zahlte sich aus: In vielen Hintergrundgesprächen konnten wir wertvolle Informationen über den Fall sammeln. Ein großer Teil der Recherche basiert auf Informationen von Quellen, die anonym bleiben. Weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz oder vor rechtlichen Konsequenzen haben oder weil sie Geheimnisse erzählen, die sie eigentlich gar nicht preisgeben dürfen. Für Journalisten gibt es ein Sonderrecht im Schutz von Informanten. Dazu gehören das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeverbot – das heißt, Journalisten müssen ihre Quellen nicht offen legen, nicht einmal vor Gericht.

Podcast & Artikel

Unser Podcast über den Fall Marlene Heitz heißt „Tod nach 9 Tagen – Marlene hätte leben können“ und ist hier zu finden. Der Artikel ist hier abrufbar. Sowohl Text als auch Podcast sind zunächst exklusiv für Abonnentinnen und Abonnenten zu hören beziehungsweise zu lesen. OZ+ kostet für Neukunden aktuell jeweils einen Euro für die ersten drei Monate. Ein Hinweis: Wegen technischer Probleme konnten einige Interessierte am Abend der Recherche-Veröffentlichung kein Abo abschließen, dafür bitten wir um Entschuldigung. Das Problem ist inzwischen behoben.

Welche Quellen haben bei der Recherche geholfen?

Besonders aufschluss- und hilfreich waren die zwei Gutachten, die von Experten erstellt worden waren – eines von einem Privatgutachter, den Rebekka Heitz beauftragt hatte, und ein zweites, das vom Landgericht Aurich in Auftrag gegeben wurde. Für den medizinischen und juristischen Hintergrund waren viele Gespräche mit Experten nützlich.

Was war in der Recherche besonders schwierig?

Es gab mehrere Punkte, die uns bei der Recherche an dem Fall Marlene Heitz gefordert haben. Zum einen ist das die Fülle an Informationen: In fünf Monaten voller Telefonate, E-Mail-Verkehr und dem Durcharbeiten von Akten kommen viele wichtige Informationen zusammen. Die galt es für uns nicht nur zu ordnen, wir mussten sie im Text und im Podcast den Lesern und Hörern auch so vermitteln, dass sie für alle verständlich sind. Eine andere Schwierigkeit bestand darin, dass wir ganz genau abwägen mussten, welche Informationen wir wirklich verwenden können.

Warum nennen wir den Namen der Klinik und des Arztes nicht?

Der Fall Marlene Heitz und die groben Behandlungsfehler, die in dem ostfriesischen Krankenhaus begangen worden sind, sind von öffentlichem Interesse – das stand für uns schnell fest, deshalb berichten wir darüber. Diese Entscheidung erfordert eine sorgfältige Abwägung zwischen dem berechtigten öffentlichen Interesse an Informationen und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte des verurteilten Arztes. Persönliche Informationen sind in Deutschland durch das Gesetz besonders geschützt. Vereinfacht lässt sich sagen: Je mehr eine Person in der Öffentlichkeit steht, desto eher ist eine identifizierende Berichterstattung erlaubt. Nach sorgfältiger Abwägung und in Rücksprache mit der Chefredaktion haben wir uns dafür entschieden, zunächst weder den Namen des Arztes noch den der Klinik zu veröffentlichen. Hätten wir den Namen des Krankenhauses genannt, hätte daraus möglicherweise gefolgert werden können, um welchen Arzt es sich handelt.

Welche Reaktionen gab es nach der Veröffentlichung?

Wir haben viele positive Rückmeldungen aus der Leser- und Hörerschaft, von Freunden und Bekannten erhalten. Einige haben berichtet, dass sie nicht weiterlesen oder -hören konnten, weil sie das Thema emotional zu sehr aufwühle. Anderen dankten uns dafür, dass wir das Thema öffentlich gemacht haben. Auf Facebook gab es auch einige wenige Kommentare, deren Autoren sich mit dem verurteilten Arzt solidarisieren.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Fall Marlene Heitz könnte kein Einzelfall sein. Eine weitere Familie aus Ostfriesland hat Klage gegen den besagten Arzt und das ostfriesische Krankenhaus eingereicht, eine andere ostfriesische Familie klagt gegen das Krankenhaus. Außerdem könnte es weitere Fälle in dem Krankenhaus geben, in dem der Arzt gearbeitet hat, nachdem er Ostfriesland verlassen hatte. Dort ist ihm mittlerweile fristlos gekündigt worden – wogegen er bestätigten Informationen zufolge arbeitsrechtlich vorgeht. Wir bleiben an dem Thema dran.

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