Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Eine Frau mit Behinderung – und außergewöhnlicher Begabung

| | 24.08.2024 14:53 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
Das „Fehnmuseum Eiland“ hat Anna de Wall eine Ecke gewidmet. Hier sieht man eines der wenigen Fotos der Scherenschnittkünstlerin und einige ihrer Werke. Foto: Ullrich
Das „Fehnmuseum Eiland“ hat Anna de Wall eine Ecke gewidmet. Hier sieht man eines der wenigen Fotos der Scherenschnittkünstlerin und einige ihrer Werke. Foto: Ullrich
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Anna de Wall war Scherenschnittkünstlerin aus Mittegroßefehn. Aus Papier schuf sie von ihrem Rollstuhl aus nur mithilfe einer Schere wahre Meisterwerke. Ihre Arbeit war bis 1945 sehr gefragt.

Mittegroßefehn - Kaum jemand vermochte es, mit Papier und Schere Szenen so darzustellen wie einst Anna de Wall. Die 1899 in Mittegroßefehn geborene Künstlerin erlangte deutschlandweit Bekanntheit mit einer filigranen Handwerkskunst, die außer religiösen Motiven auch die Schönheit der Fehnlandschaft festhielt. Der Scherenschnitt ist heute fast ebenso in Vergessenheit geraten wie die Künstlerin Anna de Wall. Ganz zu Unrecht, wie Dr. Walter Baumfalk meint. Der Auricher ist pensionierter Richter am Landgericht Aurich und Kenner der ostfriesischen Kunstszene der Gegenwart und Vergangenheit. Als Kunstsammler und Autor des Künstlerlexikons „Bildende Kunst in Ostfriesland im 20. und 21. Jahrhundert“ hat er sich nicht nur mit dem Lebenslauf der Mittegroßefehntjerin eingehend beschäftigt.

In der umfangreichen Kunstsammlung von Dr. Walter Baumfalk gibt es auch diesen Scherenschnitt der Künstlerin Anna de Wall. Nicht viele ihrer Arbeiten sind heute noch im Original erhalten. Foto: Ullrich
In der umfangreichen Kunstsammlung von Dr. Walter Baumfalk gibt es auch diesen Scherenschnitt der Künstlerin Anna de Wall. Nicht viele ihrer Arbeiten sind heute noch im Original erhalten. Foto: Ullrich

Baumfalk sagt, Anna de Wall habe ihn gleich in doppelter Hinsicht in ihren Bann gezogen. Zum einen war es die Qualität ihrer Arbeiten: „Das hat mich sofort fasziniert.“ Zum anderen aber rührten ihre Lebensumstände etwas in ihm an. „Sie ist unter schwierigsten Umständen zu einer der deutschlandweit bekanntesten Scherenschnittkünstlerinnen geworden.“ Anna de Wall war aufgrund einer misslungenen Operation in ihrer Kindheit querschnittsgelähmt und zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen. Dennoch habe sie mit dem Scherenschnitt eine künstlerische Ausdrucksform gefunden, die sie ausüben konnte. Und nicht nur das: Sie finanzierte durch den Verkauf ihrer Arbeiten ihren eigenen Lebensunterhalt. Für eine Frau war das vor 100 Jahren eher die Ausnahme als die Regel.

Als Kind auf den Weltmeeren unterwegs

Im Jahr 2019 veröffentlichte Baumfalk die Geschichte dieser starken Frau als Buch. „Anna de Wall. 1899-1945. Die Scherenschnittkünstlerin vom Fehn. Leben und Werk“ erschien im Verlag der Ostfriesischen Landschaft. Dafür sprach der Autor unter anderem mit ihrem Neffen Hayo de Wall. Er hat ihrem Wirken einen eigenen Raum gewidmet, ein privates kleines Museum in Mittegroßefehn eingerichtet. Dafür hat er Arbeiten seiner Tante zusammengetragen und persönliche Unterlagen archiviert. Für die Öffentlichkeit zugänglich ist hingegen eine Ecke im „Fehnmuseum Eiland“ in Westgroßefehn. Hier befindet sich eine Erinnerungsecke in der ständigen Ausstellung, in der Einblicke ins Leben der Künstlerin gewährt und einige ihrer Arbeiten gezeigt werden. „Sie ist eine der großen deutschen Scherenschnittkünstlerinnen“, sagt die Vorsitzende Kerstin Buss. „Sie war eine typische Fehntjerin mit viel Selbstbewusstsein – die ihr Leben selbst in die Hand genommen hat.“

Auf der Bark „Callao“ verbrachte Anna de Wall ihre ersten Lebensjahre. Ihr Vater fuhr als Kapitän Fracht im Auftrag einer Reederei. Foto: Archiv Hayo de Wall
Auf der Bark „Callao“ verbrachte Anna de Wall ihre ersten Lebensjahre. Ihr Vater fuhr als Kapitän Fracht im Auftrag einer Reederei. Foto: Archiv Hayo de Wall

Das gesamte Leben der Anna Gerhardine de Wall war Baumfalk zufolge alles andere als gewöhnlich. „Sie ist schon als Kind ums Kap Hoorn herumgesegelt“, fand er heraus. Denn als Mädchen lebte de Wall zunächst mit ihren Eltern auf einem Schiff. Ihr Vater Gerd Otten de Wall war Kapitän und heiratete mit Johanna Harmina von Aswege 1898 eine Fehntjerin. In beiden Familien habe es zahlreiche Seefahrer gegeben. Anna de Walls Vater stand im Dienste einer Reederei und fuhr auf der Bark „Callao“, die ihren Heimathafen in Brake hatte, bis 1905 Fracht. Auf dem Dreimaster wuchs das Mädchen heran. Aufzeichnungen zufolge wurde sie sogar auf dem Schiff geboren – und verbrachte ihre ersten sechs Lebensjahre nahezu vollständig an Bord.

Eine folgenschwere Operation

Dann verlagerte die Familie ihren Lebensmittelpunkt nach Mittegroßefehn. Die Familienangehörigen gehen davon aus, dass Gerd Otten de Wall aufgrund einer Krankheit berufsunfähig geworden war. Er starb 1925 – und soll in der Zwischenzeit oft bettlägerig gewesen sein. Das neue Heim der Familie war eine Fehnstelle mit etwas Land und einem einfachen Fehnhaus. Hier wurde 1906 auch der jüngere Bruder von Anna de Wall, Georg Erhardt, geboren.

Eines der seltenen Fotos von Anna de Wall zeigt sie gemeinsam mit ihrer Mutter Johanna Harmina. Foto: Archiv Hayo de Wall
Eines der seltenen Fotos von Anna de Wall zeigt sie gemeinsam mit ihrer Mutter Johanna Harmina. Foto: Archiv Hayo de Wall

In etwa zu dieser Zeit fand die folgenschwere Operation statt: Am Rücken der jungen Anna de Wall hatte es eine Veränderung der Haut gegeben. Um was es sich dabei gehandelt haben mag, ist heute unklar. Denkbar sind aber verschiedene Varianten wie etwa ein Muttermal oder Hautkrebs. Die Eltern äußern damals zwar ihre Bedenken, stimmen dem Eingriff aber zu. In einem Hamburger Krankenhaus misslang der jedoch: Anna de Wall war in der Folge von der Hüfte abwärts gelähmt. Sie hatte kein Gefühl mehr in ihren Beinen – und dieses Gefühl sollte auch niemals zurückkehren. Bis zu ihrem Tod etwa 40 Jahre später war sie im Alltag auf Hilfe angewiesen.

Eine hochintelligente Frau

Resultierend aus dieser Lähmung wurde Anna de Wall im Haus getragen und hatte zeitlebens eine Person an ihrer Seite, die für ihre Pflege verantwortlich war. Für Aufenthalte im Freien muss es einen Rollstuhl gegeben haben, erfuhr Baumfalk. Doch auf den schlecht ausgebauten Wegen der damaligen Zeit dürfte es für die junge Frau kaum möglich gewesen sein, mit diesem Rollstuhl wirklich mobil zu sein. De Wall habe durch ihre Lage durchaus ein Leben in Teilisolation geführt und sich ihre Teilhabe erstreiten müssen. Der Autor ihrer Biografie zollt ihr großen Respekt und bestätigt ihr eine unheimliche Durchsetzungsfähigkeit: „Sie ist eine Frau, die ihr Leben gemeistert hat.“

In Walter Baumfalks Biografie „Anna de Wall. 1899-1945. Die Scherenschnittkünstlerin vom Fehn. Leben und Werk“ gibt es zahlreiche Abbildungen von Werken der Künstlerin. Foto: Ullrich
In Walter Baumfalks Biografie „Anna de Wall. 1899-1945. Die Scherenschnittkünstlerin vom Fehn. Leben und Werk“ gibt es zahlreiche Abbildungen von Werken der Künstlerin. Foto: Ullrich

De Wall besuchte keine Schule, wurde zeitweise daheim privat unterrichtet. „Sie war hochintelligent“, ist Baumfalk überzeugt. Anschließend begann die junge Frau ein Fernstudium. Die bildende Kunst hatte es ihr angetan. Vieles sei ihr nicht möglich gewesen, stellt Baumfalk mit Bedauern fest. Scherenschnitt schon: „Das war das Einzige, was sie konnte. Darauf ist sie schnell gekommen.“ Sie perfektionierte den Umgang mit der Schere, bildete die Landschaft des Fehns ab. Darüber hinaus erschuf sie zahlreiche religiöse Motive oder Schriftbilder im Auftrag von Verlagen. „Man glaubt gar nicht, dass man solche Sachen mit der Schere machen kann.“ Ab 1926 arbeitete sie für verschiedene Verlage, die unter anderem auf religiöse Literatur spezialisiert waren. „Da ist ein Buch entstanden mit den Kreuzwegstationen“, weiß Baumfalk. „Das war der Durchbruch für sie.“

Eine tragische Liebe

Auch Postkartenserien und Kalendermotive entwarf die Künstlerin aus Mittegroßefehn um 1930. Anna de Wall traf den Nerv der Zeit und beherrschte eine aus damaliger Sicht absolut moderne Kunstform. In den 1920ern dominierte der Jugendstil. Fotografien zur Bebilderung von Magazinen und Kalendern waren noch nicht der Standard. Anna de Wall brachte den Scherenschnitt im Zuge ihres Schaffens zur Perfektion. Baumfalk: „Je mehr ich mich damit befasste, desto mehr habe ich sie bewundert.“ Sie habe eine meisterhafte Technik entwickelt, stellt der Kunstkenner klar. Zuletzt wirkte ihr Schaffen gegenständlich und dreidimensional.

Privat aber muss die Künstlerin trotz zahlreicher Briefkontakte oft einsam gewesen sein. Sie war nur wenig unter Menschen. „Die Kinder in der Nachbarschaft kamen alle zu ihr“, berichtet Baumfalk. De Wall aber sehnte sich offenbar nach einer Partnerschaft. Nach dem Tod von Vater, Bruder und auch Mutter lebte sie in ihren letzten Jahren allein mit ihrer Pflegeperson in dem Fehnhaus. Über eine Heiratsannonce fand sie endlich die Liebe. Doch sie hatte nur kurz Freude daran. „Es ist eine ganz tragische Geschichte“, fasst Baumfalk zusammen.

Um 1943 erschien Oskar Meier aus Lemberg in Sachsen-Anhalt in Anna de Walls Leben. Auch er war gelähmt. Er hatte einen Rollstuhl, der von seinem Hund gezogen wurde. Beide verband zunächst eine Brieffreundschaft, dann kam er nach Ostfriesland. Im Februar 1945 heiratete das Paar in Großefehn. Meier reiste wenig später zurück, aus Sorge um seine Mutter. Er kam nie wieder – und Anna de Wall starb kurz nach seiner Abreise im Alter von nur 46 Jahren. Sie hatte im Winter schwere Verbrennungen von einem elektrischen Heizlüfter an den Beinen erlitten und erkrankte schwer daran. Beerdigt wurde sie im elterlichen Grab auf dem Friedhof Mittegroßefehn in ihrem selbstgeschneiderten Hochzeitskleid.

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