Hilfe von Norderney aus Bei jedem Einsatz steigt der Puls
Heiko Erdwiens ist Vormann auf dem Seenotrettungskreuzer „Eugen“. Seine Aufgabe: Menschen aus Seenot retten. Die Herausforderung: Die Schiffbrüchigen im tosenden Meer ausfindig machen.
Norderney - Das Segelboot ist manövrierunfähig. Die Wellen heben es hoch und lassen es immer wieder auf die betonharte Sandbank knallen. Der Mast droht zu kippen. Ein Notruf ist abgesetzt. Da kommt Vormann Heiko Erdwiens mit seinem Team auf dem Seenotrettungskreuzer „Eugen“ angebraust und eilt zu Hilfe. „Einige Menschen bewahren wirklich die Ruhe, wenn sie in Seenot geraten, aber anderen steht die Panik in den Augen“, berichtet der 39-Jährige, der vor zwei Jahren für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) den Posten des 1. Vormanns auf der „Eugen“ übernommen hat.
„Eugen“ fährt 130 bis160 Einsätze pro Jahr
Erdwiens ist einer von sieben fest angestellten Seenotrettern auf Norderney. Ihr Leben und ihre Arbeit laufen in ungewöhnlichen Bahnen. „Wir haben immer 14 Tage lang rund um die Uhr Dienst und 14 Tage frei“, erläutert er. Ein Team besteht stets aus drei Mann: einem Vormann, einem Maschinisten, einem Seenotretter. Alle haben eine nautische Ausbildung durchlaufen, alle sind medizinisch ausgebildet, alle kennen sich auch mit Maschinen aus. „Im Notfall muss der Vormann auch mal was reparieren und der Maschinist das Boot in den Hafen steuern können“, sagt Erdwiens.
Immer mit einem Ohr am Funk – auch nachts
Inzwischen schlafen die Männer nicht mehr wie früher auf dem Boot, sondern in der Station gleich gegenüber vom Liegeplatz, wo jeder ein eigenes Zimmer und darin einen eigenen Fernseher hat. „Früher gab’s schon mal Krach ums Programm“, berichtet Erdwiens und schmunzelt.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht ist in jedem Raum auf dem Boot und in der Station Kanal 16 offen, über den sich Besatzungen melden können, wenn sie in Seenot geraten sind. „Dadurch schlafen wir natürlich nicht gut. Wir sind ja immer mit einem Ohr am Funk.“
Köpfe nur auf der Wellenspitze zu sehen
130 bis 160 Einsätze pro Jahr fährt die „Eugen“. Allerdings waren davon im vergangenen Jahr im Rahmen der Amtshilfe 100 Krankentransporte. „Immer, wenn es zu neblig oder zu stürmisch ist, als dass der Hubschrauber oder die Fähre starten könnten, transportieren wir Patienten nach Norddeich. Ein Notarzt ist dann immer mit an Bord“, berichtet Erdwiens. Am Festland übernehmen ein Krankentranport und ein Notarzt von dort.
Der spektakulärste Einsatz, den er je erlebt hat, war ein Flugzeugabsturz im Wattenmeer. „Die Lage war unklar. Trümmerteile schwammen weit um das Wrack herum. Wir hatten die Information, dass neben dem Piloten zehn Fallschirmspringer an Bord gewesen waren“, berichtet Erdwiens. Wie sich später herausstellte, waren die Fallschirmspringer bereits vor dem Absturz aus dem Flugzeug gesprungen und sicher auf der Insel gelandet. „Es saß nur der Pilot darin. Den 65-Jährigen konnten wir leider nicht retten. Er starb beim Absturz.“
Retter wissen nie,was sie erwartet
Zunächst war das Seenotretterteam aber von einem noch schlimmeren Szenario ausgegangen und hatte Ausschau nach im Wasser treibenden Körpern gehalten. „Man sieht ja nur die Köpfe, die wie Bälle auf den Spitzen der Wellen treiben. Im Wellental sieht man sie nicht.“ Weil die Retter nie wissen, was sie erwartet, steigen bei einer Alarmierung Puls und Adrenalinspiegel. Das Hormon mache wachsam und hochkonzentriert, meint Erdwiens. „Wenn Boote im Schluchter Fahrwasser oder im Dovetief auf Sandbänke geraten, ist Eile geboten. Sie können sehr schnell auseinanderbrechen“, berichtet der Vormann. Und: „Man kann am selben Tag zweimal an dieselbe Stelle gerufen werden und findet doch, bedingt durch Ebbe und Flut, zwei ganz unterschiedliche Situationen vor.“ Wichtig sei, dass die Teams sich blind verstehen. „Jeder muss wissen, was er zu tun hat, damit ein Rettungseinsatz reibungslos klappt.“
Viele Einsätze betreffen Freizeitskipper. Die Gründe, warum sie in Seenot geraten, sind ganz unterschiedlich. Manche Freizeitskipper unterschätzen den Tiefgang ihrer Boote, andere machen Navigationsfehler. Es gibt aber auch Motorschäden. Oder eine als „Dieselpest“ bekannte Alge verstopft die Filter. „Das ist wie im Straßenverkehr. Da passieren ja auch Unfälle aus ganz unterschiedlichen Gründen“, sagt Erdwiens. Manchmal nehmen auch Berufsfischer die Retter in Anspruch, beispielsweise wenn sich ein Netz im Motor eines Kutter verfangen hat und er dadurch manövrierunfähig ist, oder wenn ein Fischer sich an Bord verletzt.
Vormänner stammen nicht von Norderney
Als Vormann übernimmt Heiko Erdwiens auch Dokumentation und Verwaltungsaufgaben. Er ist froh, dass sich die DGzRS allein über Spenden finanziert. „Hätte der Staat seine Finger im Spiel, wäre der bürokratische Aufwand sicher noch höher“, vermutet er.
Langer Weg zum Arbeitsplatz
Wer nun denkt, die Norderneyer Seenotretter seien allesamt eingefleischte Einheimische und von ihrem Eiland gar nicht wegzukriegen, der irrt. Erdwiens ist Borkumer, die beiden anderen Vormänner kommen von Juist. Um nach seinem Zwei-Wochen-Dienst zu seinem Wohnort zu gelangen, fährt Heiko Erdwiens im Sommer mit seinem eigenen Motorboot zurück nach Borkum. Fahrzeit: eine gute Stunde. Im Herbst und Winter sieht das anders aus. Dann bewältigt er die Strecke mit der Fähre von Norderney nach Norddeich, nimmt von dort aus das Auto oder den Zug nach Emden und steigt dann wieder auf die Fähre nach Borkum. „Neulich hat das mal acht Stunden gedauert“, beschreibt er seinen Arbeitsweg. Wie das Leben und die Arbeit verläuft auch der Arbeitsweg des Seenotretters in ungewöhnlichen Bahnen.