Serie „Fehntjer Geschichte(n)“ Das „Tantenhaus“ – einst kultureller Treffpunkt am Kanal

| | 28.09.2024 14:06 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
Für Heyo Onken war dieses Haus einst das „Tantenhaus". Nach dem Tod der letzten Bewohnerin verkaufte die Familie das Haus an seine heutigen Eigentümer, die es liebevoll restaurierten. Foto: Ullrich
Für Heyo Onken war dieses Haus einst das „Tantenhaus". Nach dem Tod der letzten Bewohnerin verkaufte die Familie das Haus an seine heutigen Eigentümer, die es liebevoll restaurierten. Foto: Ullrich
Artikel teilen:

Im Haus seiner Großeltern in Westgroßefehn ging es vor Jahrzehnten zu wie im Taubenschlag, erinnert sich Heyo Onken. Namhafte Künstler seien von weither gekommen, um hier Amalie Onken zu begegnen.

Westgroßefehn - Amalie Onken war eine Frau, die mit Geschick aus Wolle, Federn oder auch Gräsern ganz besondere Kunstwerke schuf. Als Weberin und Künstlerin wurde die 1905 in Westgroßefehn geborene Frau weit über die Fehntjer Grenzen bekannt. „Ich weiß, dass sie auch in Berlin ausgestellt hat“, erinnert sich ihr Neffe Heyo Gerhard Onken. Der frühere Müller von Westgroßefehn blickt im Gespräch mit der Redaktion zurück auf seine Kindheit. Seine Tante Amalie, die er noch heute liebevoll Mali nennt, blieb wie weitere ihrer Schwestern unverheiratet. Sie lebten gemeinsam in einem stattlichen Haus am Kanal unweit der Mühle. „Als Kinder haben wir es das ‚Tantenhaus‘ genannt.“

Das einzige erhaltene Foto im Besitz Heyo Onkens, das Amalie Onken allein zeigt. Repro: Ullrich
Das einzige erhaltene Foto im Besitz Heyo Onkens, das Amalie Onken allein zeigt. Repro: Ullrich

In diesem besonderen Haus lebten vier Schwestern gemeinsam, zeitweise sogar alle sechs – zuerst unter einem Dach mit ihren Eltern, den Großeltern des Müllermeisters im Ruhestand, und nach deren Tod allein auf sich gestellt. „Bis ins hohe Alter. Das ist schon etwas Besonderes.“ Das „Tantenhaus“ muss ein wunderbarer Ort für den jungen Heyo Onken und die anderen Kinder im Dorf gewesen sein. „Es waren sehr liebenswerte Leute“, erzählt er. Überaus kinderlieb, freundlich und aufgeschlossen, aber auch zurückhaltend, fromm und gebildet. „Sie hatten eine besondere Ausstrahlung.“

Amalie Onken und Anna de Wall

Amalie (1905-1984) war die Künstlerin, der er dort oft bei der Arbeit zusah. „Als Kinder haben wir uns gern mit ihr unterhalten und ihr bei den Handarbeiten zugeguckt.“ In der Werkstatt mit dem großen Webstuhl habe er sie oft besucht. „Sie hatte riesige Mengen an Wolle und Garn dort liegen.“ Ihre jüngere Schwester Berta (1908-1991) war Musikerin. Sie veranstaltete Kindergottesdienste in dem Gebäude im Garten hinterm Haus und gab vielen Kindern im Dorf Klavierunterricht. Nicht nur deshalb sei dort immer etwas los gewesen: „Das Haus war ein Taubenhaus, wo viele Leute ein- und ausgingen.“

Berta (von links) und Amalie Onken am Rande einer Feier mit Foline Deriese, einer Tante von Heyo Onkens Mutter, und Amke Onken, der ältesten der sechs Schwestern. Repro: Ullrich
Berta (von links) und Amalie Onken am Rande einer Feier mit Foline Deriese, einer Tante von Heyo Onkens Mutter, und Amke Onken, der ältesten der sechs Schwestern. Repro: Ullrich

Es sei ein großer Haushalt mit einem weitläufigen Garten und einer kleinen Landwirtschaft samt Kuh und Schaf gewesen. Die beiden Jüngsten im Bunde der insgesamt sieben Geschwister, Amalie und Berta Onken, lebten ihr künstlerisches Talent voll aus. Die beiden seien meist im Doppelpack aufgetreten und hätten sehr aneinander gehangen, erinnert sich ihr Neffe. „Amalie und Bertha sind dafür bekannt gewesen, dass sie am Nachmittag nach ihrem Tee Arm in Arm noch eine Runde durchs Dorf drehten.“ Beide hatten nur wenige Jahre nach Anna de Wall das Licht der Welt erblickt. Die Scherenschnittkünstlerin aus Mittegroßefehn wurde 1899 geboren. Bis 1945 schuf sie in ihrem kleinen Haus auf dem Fehn wahre Meisterwerke aus Papier.

Bedeutende Künstler kamen zu Besuch

Anna de Wall war nach einer misslungenen Operation in der Kindheit querschnittsgelähmt. Sie wollte kreativ sein – und fand diese besondere Kunstform, die sie trotz ihrer Einschränkungen ausüben konnte. Amalie und Berta Onken und Anna de Wall tauschten sich Heyo Onken zufolge regelmäßig aus. „Die Verbindung zu Anna de Wall ist immer geblieben. Beide haben sie oft besucht.“ Die Interessengruppe der Künstler sei überschaubar gewesen, relativiert er. „Amalie war als Künstlerin bekannt und auch anerkannt“, stellt er klar. „Sie hat gewebt und geknüpft und später Bilder aus Federn und Gräser gemacht.“ Solch ein Bild aus Federn nannte sie Pennderella, erläutert Heyo Onken. Doch nicht nur aus dem direkten Umfeld kamen die Künstler ins Haus der Tanten, berichtet der Müllermeister, der sich als Vorstandsmitglied im benachbarten Fehnmuseums „Eiland“ engagiert und dort unter anderem Zeitzeugen zum Gespräch bittet und so ihre Erinnerungen für die Nachwelt auf Film festhält.

Nur wenige Arbeiten von Amalie Onken sind der Familie erhalten geblieben, bedauert Heyo Onken. Dieser aufwendig geknüpfte Wandteppich ist eines dieser Stücke. Es hängt im Müllerhaus. Foto: Ullrich
Nur wenige Arbeiten von Amalie Onken sind der Familie erhalten geblieben, bedauert Heyo Onken. Dieser aufwendig geknüpfte Wandteppich ist eines dieser Stücke. Es hängt im Müllerhaus. Foto: Ullrich

Bedeutende Künstler hätten sich zeitweise in dem Haus aufgehalten und ein Fremdenzimmer bei den Tanten genommen. Namentlich bekannt sei ihm noch Julian Klein von Diepold (1868-1947), der aus Nordrhein-Westfahlen stammte und später auf Norderney lebte. Eine von ihn signierte Zeichnung ist ihm aus dieser Zeit geblieben. Klein von Diepold kam ab 1919 oft nach Ostfriesland, heißt es im Lexikon der Ostfriesischen Landschaft. Die Gegend, die ihn offenbar an Flandern erinnerte, habe ihn fasziniert. Im Jahr 1925 heiratete er die Ostfriesin

Margarethe Iderhoff, mit der fortan auf Norderney lebte.

Künstlerin hat Wandteppich an Königshaus verkauft

Auf der Insel und am Festland malte er vor allem während der Sommermonate. Die kalte Jahreszeit verbrachte er hingegen in Italien oder Berlin. Seine Werke sind überwiegend ostfriesische und italienische Landschaftsdarstellungen. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges sei das Berliner Atelier und eine große Zahl seiner Gemälde zerstört worden. Der künstlerische Nachlass von Amalie Onken ist ebenfalls sehr spärlich, bedauert Heyo Onken. Vieles sei im Laufe der Jahre verloren gegangen, möglicherweise auch entsorgt worden, vermutet er. Im Müllerhaus hängt allerdings bis heute ein besonders schönes Stück. Der geknüpfte Wandteppich mit dem Ostfrieslandwappen war ein Geschenk von seiner Tante. Auch die Familie Buss als Nachbarn des „Tantenhauses“ bekam einen. Ein drittes Exemplar verkaufte die Künstlerin Heyo Onken zufolge an das niederländische Königshaus. So habe sie es ihm einst erzählt.

Heyo Onken (Zweiter von rechts mit seinen Kindern Bernhard, Anke und Christina) erinnert sich gern daran, wie kinderlieb seine Tanten Amke (von links), Berta und Frida waren. Repro: Ullrich
Heyo Onken (Zweiter von rechts mit seinen Kindern Bernhard, Anke und Christina) erinnert sich gern daran, wie kinderlieb seine Tanten Amke (von links), Berta und Frida waren. Repro: Ullrich

Alle seine sechs Tanten blieben kinderlos. Der Grund dafür, dass sie zeitlebens unter einem Dach lebten, war ein trauriger. Es waren die Folgen des Ersten Weltkriegs, erläutert der Müllermeister im Ruhestand. Mit Christine heiratete nur eine der insgesamt sechs Schwestern seines Vaters Onke Heyen Onken. Anna (1897-1927) war als Krankenschwester nach Hannover gegangen und wurde bei der Arbeit auf einer Tuberkulosestation selbst mit der Krankheit infiziert. Sie kehrte heim zu ihrer Familie. Vor allem Berta habe sie gepflegt, weiß Onken. Dabei habe sie sich angesteckt. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Anna überlebte sie zwar, musste jedoch fortan mit gesundheitlichen Einschränkungen klarkommen. „Eine Lungenhälfte wurde stillgelegt.“

Tischdecken und Keksdosen

Zu viele junge Männer hatten in den Kriegswirren von 1914 bis 1918 beziehungsweise 1939 bis 1945 ihr Leben gelassen. „Die Jungs fehlten“, stellt Onken fest. Oder die Frauen hatten zuvor ihr Herz verschenkt und mussten nun den Verlust ihres Liebsten betrauern: So erging es offenbar seiner Tante Berta. Ihr Freund war Lehrling in der Mühle, die Heyo Onken später von seinem Vater übernehmen sollte. Der junge Mann kehrte nicht von der Front zurück. Den Kindern gegenüber ließen sich die Frauen ihre Trauer jedoch offenbar nie wirklich anmerken.

Amalie Onken schuf aus Naturmaterialien wie hier Federn filigrane Kunstwerke. Foto: Ullrich
Amalie Onken schuf aus Naturmaterialien wie hier Federn filigrane Kunstwerke. Foto: Ullrich

Für den mittlerweile 88 Jahre alten Neffen war der Besuch im Hause seiner Tanten stets eine Freude. „Wenn wir da als Kinder ins Haus kamen, war das eine Pracht. Was es da an Tischwäsche gab“, erinnert er sich noch Jahrzehnte später, wie beeindruckt er einst war. „Sie hatten auch schöne Keksdosen. Wenn die auf den Tisch kamen, war das für uns Kinder etwas Besonderes.“ Das rundum bemalte Blech des exotischen Behältnisses habe ihn fast ebenso begeistert wie die Kekse selbst, versichert er. Sonntags traf sich die Familie Onken oft zum Tee. „Da wurde nicht gearbeitet, sondern bestenfalls musiziert und sich unterhalten.“ Während die Alten miteinander sprachen, spielten die Kinder mit den Tanten Mali und Berta, lösten Rätsel oder sangen zum Klavier.

Ähnliche Artikel