Altkanzlerin im Interview Merkel gegen Unionsforderung nach Zurückweisungen an Grenze
2015 hatte die damalige Kanzlerin entschieden, die deutschen Grenzen offen zu halten. Daran hält sie auch heute in der Migrationsdebatte fest. Auch in einer anderen Frage mischt sie sich ein.
Im aufziehenden Bundestagswahlkampf positioniert sich Ex-Kanzlerin Angela Merkel in der Migrationspolitik gegen Unionsforderungen nach Zurückweisungen von Migranten an den deutschen Grenzen. „Ich finde das nach wie vor nicht richtig“, sagte die 70-Jährige dem „Spiegel“. „Es ist doch eine Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen.“ Falls es der EU nicht gelinge, das Problem der illegalen Migration zu lösen, fürchte sie „ein Stück Rückabwicklung der europäischen Integration, mit Folgen, die man nicht abschätzen kann“.
CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz und die CSU fordern immer wieder einen härteren Kurs in der Asylpolitik, darunter auch Zurückweisungen an der deutschen Grenze. Merkel sagte nun, man habe „Grenzkontrollen eingeführt und vieles Richtige mehr, das zeigt Wirkung“. Sie verteidigte ihre Entscheidung von 2015, angesichts der Flüchtlingsbewegungen von Ungarn über Österreich nach Deutschland die offenen deutschen Grenzen nicht geschlossen zu haben. „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben.“ Ihre Entscheidung hatte zu einem tiefen Zerwürfnis mit der CSU und deren damaligem Vorsitzenden Horst Seehofer geführt.
Merkel verteidigte zudem ihre Selfies mit Migranten, die ihr den Vorwurf eingebracht hatten, Menschen überhaupt erst zur Flucht zu motivieren. „Ein freundliches Gesicht bringt niemanden dazu, seine Heimat zu verlassen“, sagte sie jetzt. Zugleich verlangte sie Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft, ohne die es keine Integration geben könne. „Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“
Merkel gegen Söder-Absage an Schwarz-Grün
Auch in einem anderen Punkt stellte sich Merkel gegen Äußerungen der CSU und aus Teilen ihrer eigenen Partei. Angesichts komplizierter Koalitionsverhandlungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg warnte sie davor, wie von CSU-Chef Markus Söder gefordert ein Bündnis mit den Grünen auszuschließen. „Ich finde es nicht in Ordnung, dass Markus Söder und andere in CSU und CDU derart abfällig über die Grünen sprechen“, sagte sie. Vor dem Hintergrund der AfD und den Entwicklungen um das Bündnis Sahra Wagenknecht nannte Merkel es umso wichtiger, „dass diejenigen, die koalieren können, sich ihre Bündnisfähigkeit nicht noch selbst zerschlagen“.
„Bündnisfähigkeit muss erhalten bleiben“
Klar hätten die Grünen sehr andere Ansichten als die Union, „und ich bin ja mit Bedacht nicht dort Mitglied, sondern in der CDU“, sagte Merkel. „Aber eine Bündnisfähigkeit muss erhalten bleiben, zumal schwarz-grüne Koalitionen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg funktionieren.“ Dies seien ja nicht die erfolglosesten Bundesländer.
Söder hatte seine Absage an ein schwarz-grünes Bündnis im Bund nach dem Grünen-Parteitag am vergangenen Wochenende untermauert. Nötig sei ein echter Richtungswechsel. Merz hatte auf dem CSU-Parteitag im Oktober ein Bündnis mit den Grünen aktuell ebenfalls unmöglich genannt, anders als Söder Schwarz-Grün aber nicht komplett ausgeschlossen.
Frage zur Kanzlertauglichkeit von Merz bleibt offen
Die Frage, ob Unionsfraktionschef Merz ein geeigneter Kanzler sei, beantwortetet Merkel im „Spiegel“ nicht. „Er muss jetzt einen Wahlkampf führen, in dem er das beweisen kann.“ Wer es zum Kandidaten schaffe, müsse aber „über irgendwelche Eigenschaften verfügen, die ihn dazu befähigen“. 2002 hatte Merkel Merz vom Vorsitz der Unionsfraktion im Bundestag verdrängt. Das Verhältnis beider gilt seitdem als belastet. Aus Merkels Memoiren mit dem Titel „Freiheit“, die am Dienstag erscheinen, zitiert der „Spiegel“ den Satz Merkels über Merz: „Es gab ein Problem, und zwar von Beginn an: Wir wollten beide Chef werden.“
Merkel verteidigt Entscheidung gegen Stopp von Nord Stream 2
Die Altkanzlerin verteidigte ihre Entscheidung, trotz der Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel durch Russland 2014 das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 nicht gestoppt zu haben. „Ich habe es als eine meiner Aufgaben gesehen, für die deutsche Wirtschaft billiges Gas zu bekommen“, sagte sie dem Magazin. „Wir sehen jetzt, welche Folgen teure Energiepreise für unser Land haben.“ Für einen Abbruch des Gashandels mit Russland hätte sie zudem keine politischen Mehrheiten gehabt „und schon gar keine Zustimmung in der Wirtschaft“. Sie habe das Projekt zudem für politisch sinnvoll gehalten. Sie habe mit Putin Verbindung halten wollen „durch den Versuch, ihn am Wohlstand teilhaben zu lassen“.
Merkel betonte aber auch, sie habe sich nie Illusionen über den Ex-KGB-Offizier Putin gemacht. „Er hatte immer diktatorische Züge, und seine Selbstgerechtigkeit hat mich aufgeregt.“ Sie glaube aber nicht, dass sich Putin schon bei seinem Amtsantritt im Jahr 2000 vorgenommen habe, eines Tages die Ukraine anzugreifen. „Das ist vielmehr eine Entwicklung, bei der auch wir im Westen uns die Frage stellen müssen, haben wir immer alles richtig gemacht“, fügte die Ex-Kanzlerin hinzu. So wäre eine größere Einheit des Westens sicher besser gewesen. „Wir waren nicht so stark, wie wir hätten sein können.“