Ostfriesland
Mehr Hintergründe und mehr kritische Nachfragen

Rollentausch: Der ehemalige Abonnent Gerhard Nanninga aus der Krummhörn interviewt Chefredakteur Joachim Braun über die OZ und die Anforderungen an den Lokaljournalismus.
Er ist ein kritischer, für den Geschmack unserer Redaktion sogar ein zu kritischer Zeitungsleser. Denn Gerhard Nanninga (66) aus der Krummhörn hat die OZ nach 30 Jahren als Abonnent abbestellt und begründete dies unter anderem mit der Umstellung der OZ zum Jahreswechsel und mit „schlechter journalistischer Arbeit“. Natürlich reagierte die OZ-Redaktion auf die ausführliche Kritik. Daraus entsponn sich ein intensiver Mailverkehr über grundlegende journalistische Themen.
Der studierte Betriebswirt, der über 30 Jahre lang in verschiedenen Positionen in der Erdgas-Aufbereitungsanlage an der Knock arbeitete, bis er 2012 in den Ruhestand ging, diskutierte hart mit Chefredakteur Joachim Braun. Und als dieser ihm vorschlug, daraus ein Interview zu machen – Leser interviewt Journalist – schickte er sogleich einen ganzen Fragenkatalog. Aber lesen Sie selbst:
Gerhard Nanninga: Seit Januar 2020 gibt eine komplett neue OZ. Aus den wenigen Informationen über die Hintergründe habe ich spekuliert: Das ist eine reine Kostenfrage; der Gesamtumfang aller Ausgaben wurde erheblich reduziert; Lokales und auch die Sport-Berichterstattung wurden heruntergefahren.

Ist es aber nicht. Die Zeitungsgruppe Ostfriesland steht wirtschaftlich gut da – noch. Aber die Probleme sind schon erkennbar: Unsere Leser sind im Durchschnitt nicht mehr die Jüngsten, und der digitale Medienwandel spricht auch gegen den Informationsträger Papier.
Aus unternehmerischer Verantwortung haben darum die Gesellschafter vor zwei Jahren gesagt: Wenn wir dauerhaft überleben wollen, dann brauchen wir ein digitales Geschäftsmodell. Der Journalismus muss sich verändern. Er muss relevanter werden, weniger terminorientiert als auf den Leser bezogen, nutzwertiger und auch unterhaltsamer. Nicht mehr die Nachricht steht im Mittelpunkt, sondern das Thema. Und das Ganze in einer Zeitungsausgabe, weil wir digital ja auch nur eine Internetseite machen.
Die Redaktion wiederum hat diesen Auftrag umgesetzt und in dem neuen Konzept darauf geachtet, dass alle ostfriesischen Regionen berücksichtigt werden wie zuvor. Das Lokale wurde also nicht zurückgefahren, und der Sport nur ein bisschen.

Braun: Streit ist in diesem Fall nicht der korrekte Begriff. Hier geht es um zwei Unternehmen – Nordwest-Zeitung und Zeitungsgruppe Ostfriesland –, die seit bald 70 Jahren auf unterschiedlichen Ebenen eng zusammengearbeitet haben, deren Interessen und Strategien sich jetzt aber nicht mehr absolut decken. Das ist wie bei einem alten Ehepaar. Und was macht man, wenn man sich auseinandergelebt hat? Man geht getrennte Wege.
Unser neuer Partner, die Neue Osnabrücker Zeitung, ist sicherlich keine zweite Wahl. Das Medienhaus ist modern aufgestellt, in Print und digital, und eine der meistzitierten Regionalzeitungen im Land. Wir sind sehr froh, dass wir jetzt mit der NOZ zusammenarbeiten können.
Nanninga: Wenn ich Sie richtig verstehe, muss sich die Lokalredaktion ändern, indem sie weniger ereignisbezogen – also nicht über jede Versammlung und Ehrung, Veranstaltung oder Ausstellung – berichtet, und stattdessen mehr Hintergrundinformationen liefert, also nicht nur Pressemitteilungen unreflektiert druckt, sowie Hofberichterstattung einschränkt und dafür mehr kritisch hinterfragt. Ist das der künftige Anspruch der OZ, an dem wir die Zeitung messen können?
Braun: Ich hoffe doch, dass wir bisher schon nicht als Hofberichterstatter wahrgenommen wurden, sondern als unabhängig und kritisch. Ansonsten haben Sie Recht. An diesem Anspruch sollen Sie die OZ messen können.
Im Mittelpunkt stehen für uns der Leser und seine Interessen. Man kann auch sagen: der Kunde. Die Perspektive früher war eher die Wiedergabe dessen, was uns mitgeteilt wurde. Heute müssen wir diese Informationen nehmen und überlegen, in welchem Kontext sie für den Leser wichtig sind. Das erfordert eine bessere Vorbereitung und stärkere strategische Überlegungen. Lokaljournalisten sind mehr als nur Verbreiter von Nachrichten.
Nanninga: Können Sie denn verstehen, dass viele Leser insbesondere an Informationen aus Ihrem eigenen Umkreis interessiert sind? Ich lebe in der Krummhörn. Bei Informationen aus Bingum oder Wittmund lese ich bestenfalls die Überschriften. Dadurch reduziert sich für mich das Kosten/Nutzenverhältnis einer Lokal-Zeitung. Ist die OZ nicht eher eine Regionalzeitung und sind Konzepte für eine Lokalzeitung daher eher problematisch?
Braun: Was ist eine Regionalzeitung, was eine Lokalzeitung? Ich kann mit solchen Begriffen wenig anfangen. Uns muss es gelingen, die Geschichte aus Bingum so interessant zu erzählen und so besonders zu machen, dass sie auch den Leser in der Krummhörn interessiert. Das funktioniert zugegebenermaßen oft noch nicht so, wie wir uns das vorstellen, aber es ist unser Ziel. Das Thema muss funktionieren, der Ort ist nicht so wichtig. Schauen Sie sich doch mal eine überregionale Zeitung an. Die funktioniert genauso.
Im Übrigen haben wir uns ja nicht aus dem Lokalen verabschiedet. Wir haben auch die Lokalseiten nicht reduziert. Aus unserer „Lesewert“-Untersuchung vorigen Herbst wissen wir, dass gut erzählte Geschichten unabhängig vom Ort funktionieren. Der Anspruch, dass für jeden Leser alles in der Zeitung interessant ist, ist nicht erfüllbar. Laut Lesewert lesen unsere Abonnenten im Durchschnitt 20 Artikel pro Ausgabe und sind zufrieden und das obwohl wir täglich 120 bis 130 anbieten.
Nanninga: Wo soll denn mein Verein in Zukunft (kostenlos) werben? Geht wohl nur noch in der Freitagsbeilage „Menschen und Vereine“, die aber auch viele allgemeine Artikel enthält. Wird diese Klientel nicht in Zukunft auf die Anzeigenblätter der Konkurrenz setzen?
Braun: Vereinswerbung ist nicht Aufgabe einer Tageszeitung, die im Monat 40 Euro kostet. Diese Art der Berichterstattung hat auch keinen journalistischen Anspruch. Und in der Regel ist sie rückwärts gewandt. Das heißt, sie berichtet über etwas, das in der Vergangenheit geschah. Dafür braucht man keine ausgebildeten Redakteure. Das kann jeder Schriftführer. Deren Artikel drucken wir gerne in „Menschen und Vereine“ ab. Und seien Sie sich sicher, je mehr Artikel die Vereine einsenden, umso weniger allgemeine Artikel werden dort stehen. Wenn auch Anzeigenblätter diese Texte drucken oder die Vereine sie auf ihren eigenen Internetseiten drucken, dann sollen sie dies gerne machen. Hier geht es ja nicht um Exklusivität.
Nanninga: Hat sich nicht im Laufe der Jahre eine Art Amigo-Kultur zwischen Lokalredakteuren und den öffentlich tätigen Akteuren (Politiker, Vereinsbosse, Behördenchefs) herausgebildet? Wenn jetzt kritisch berichtet werden soll – erwarten Sie da nicht erhebliche Widerstände? Kann die OZ das aushalten und gelingt es, die Redakteure aus Ihrer Komfortzone zu locken?
Braun: Ich glaube nicht, dass die Redakteure in einer Komfortzone leben. Was sie unfreiwillig waren oder sind, ist Teil der jeweiligen lokalen Elite. Dagegen kann man sich als Journalist auch schwer wehren. Unsere Geschäftspartner waren ja bisher meistens Politiker, Vereinsbosse, Behördenchefs. Und gerade im Lokalen, wo man den handelnden Personen ständig begegnet, ist der Grat zwischen Nähe und Distanz sehr schmal. Anders formuliert: Zu schreiben, dass Merkel zurücktreten müsste, ist wesentlich einfacher, als den eigenen Bürgermeister dazu aufzufordern.
Ja, klar gibt es Widerstände. Mit dem neuen Konzept der OZ rücken die normalen Leser in den Vordergrund, zulasten der öffentlich tätigen Akteure. Das gefällt letzteren nicht, dagegen protestieren sie auch, aber das müssen wir aushalten. Gleiches gilt für kritische Berichterstattung. Entscheidend ist, dass sie faktengetrieben ist und keine Frage von Sympathie oder Antipathie. Der Leser muss verstehen können, warum wir wie berichten. Hier müssen wir sicherlich noch transparenter werden.
Nanninga: Führt kritische Berichterstattung nicht auch schnell zu persönlichen Angriffen über die sogenannten sozialen Medien – bis hin zu persönlichen Übergriffen?
Braun: Das ist so. Aber auch das muss man als Lokaljournalist aushalten können. Wer austeilt, muss auch einstecken. Dazu braucht man mitunter ein dickes Fell und zudem einen offenen Umgang mit eigenen Fehlern.
Nanninga: Aber wie kritisch kann eine Lokalzeitung wirklich berichten? Meine Idealvorstellung wäre, dass der Redakteur der Anwalt des Lesers ist. Er stellt im Namen der Leser kritische Fragen, weist auf fehlerhafte Darstellungen hin, hinterfragt allzu einfache Aussagen und überführt im Zweifelsfall auch jemanden der Lüge. Gelegenheit, solche Fragen zu stellen, hat der normale Leser ja nicht. Diese Lücke müsste die Lokalpresse füllen. Können Sie mir da zustimmen? Und wenn ja – wird diese Rolle nicht allzu oft vernachlässigt?
Braun: Der Redakteur als Anwalt des Lesers ist eine gute Analogie. Dieses Bild gefällt mir. Und ja, so sollte es auch sein. Die Kontrollfunktion von Politik und Verwaltung hatten auch die Autoren des Grundgesetzes vor Augen, als sie nach den schlechten Erfahrungen mit der gleichgeschalteten Presse in der NS-Zeit die Pressefreiheit im Artikel 5 festgeschrieben haben. Und wir sind uns dieser Verantwortung durchaus bewusst.
Trotzdem nehmen wir sie – und das meine ich jetzt selbstkritisch – nicht immer wahr. Manchmal, weil wir ein Thema falsch einschätzen. Manchmal, weil wir überlastet sind. Und, ja, manchmal auch, weil wir der zu erwartenden Konflikte überdrüssig sind. Das sollte nicht so sein, aber wir Journalisten sind eben auch Menschen. Manchmal aber, und das darf man nicht unterschätzen, hat der Leser eben auch nicht recht, und der von ihm kritisierte Stadtrat oder das Rathaus handeln korrekt. Dann werden wir das auch so darstellen, selbst wenn es dem Leser missfällt.
Eine fest definierte Rolle zu haben, gefällt uns Journalisten nicht. Wir stehen auf unsere Unabhängigkeit, auf unsere eigene Bewertung. Ob wir immer richtig liegen, darüber lässt sich sicher streiten. Wichtig ist, dass wir bereit sind, uns der Diskussion über unser eigenes Handeln zu stellen, dass wir unsere Entscheidungsgründe transparent machen und dass wir im Fall, dass wir falsch liegen, auch bereit sind, uns zu korrigieren.
Nanninga: Viele Artikel, die ich in den ersten Wochen gesehen habe, erscheinen mir recht beliebig. Der Bezug zu aktuellen Ereignissen wird oft nur kurz hergestellt und dann sehr allgemein über das Thema berichtet. Ich erinnere mich an Berichte über Fitnessstudios, russische Würste oder Taucher in der Ems. Auch wenn ich dies durchaus einmal lese, gewinnen Sie dadurch wirklich neue Abonnenten? Verlieren Sie nicht eine Reihe von Lesern, die sich mit den Änderungen nicht anfreunden können? Sind Sie selbst mit der Umsetzung in den ersten Wochen zufrieden?
Braun: Ganz ehrlich. Wir sind ganz ordentlich in die Themen-Berichterstattung eingestiegen, aber es ist weiterhin für uns alle ein täglicher Kampf, weil wir unsere Arbeitsweisen völlig verändern müssen. Deshalb ist qualitativ durchaus noch Luft nach oben. Die, wie Sie sie nennen, allgemeine Berichterstattung ist durchaus von den Lesern gewünscht, das hat uns unsere „Lesewert“-Untersuchung im vorigen Herbst gezeigt. Zumal dann, wenn es um sogenannte Top-Themen geht. Das sind beispielsweise Berichte über Gesundheit, also die Fitnessstudios, Einkaufen, also die russische Wurst, und Sicherheit, also Tauchen in der Ems. Ebenso wichtig sind auch den Alltag betreffende Themen wie Wohnen, Infrastruktur und Naturschutz.
Ja, ich glaube schon, dass wir damit auf Dauer neue Leser gewinnen können. Natürlich ist qualitativ bei uns noch viel Luft nach oben. Wir stehen ja auch noch ganz am Anfang. Ob wir Leser verlieren? Ja, jeden Tag, und das nicht vorrangig wegen unserer redaktionellen Inhalte, sondern wegen des Alters unserer Leser. Also brauchen wir auch jüngere Leser, und die mögen zu einem Gutteil solche Erklärstücke. Aber diese jüngeren, digitalen Leser sind verwöhnt. Da müssen wir bei jedem Artikel beweisen, dass es sich für sie lohnt, das Kostbarste einzusetzen, was sie haben. Ihre Zeit.
Nanninga: Ganz anderes Thema: Viele Zeitungen bieten neue Bezahlmodelle für digitale Medien an – zum Beispiel für einzelne Artikel und Tages-/Wochen-Abos. Gibt es dort bald neue Möglichkeiten bei der OZ? Sind die Apps der OZ wirklich gut?
Braun: Wir haben vor ein paar Jahren bei unseren Digitalangeboten eine harte Bezahlschranke eingeführt. Das heißt, nur Abonnenten können unsere Texte lesen. Grundsätzlich finde ich das gut. Es hat nur einen Nachteil. Die Werbung neuer Kunden ist schwierig. Seit dieser Woche haben wir ein neues Bezahlmodell. Ein größerer Teil der Artikel wird dann frei verfügbar sein. Für alle Artikel, hinter denen unsere eigene journalistische Arbeit steckt, muss bezahlt werden. Das Probeabo kostet allerdings nur einen Euro pro Monat. Das ist ein guter Preis für den Einstieg, wie ich finde. Der Tagespass, wie wir ihn bisher angeboten haben, fällt dann natürlich weg.
Grundsätzlich finde ich unsere Apps gut, ebenso die Internetseite. Aber es gibt nichts, das man nicht verbessern kann, schon gar nicht im schnelllebigen Internet. Wir arbeiten schon an neuen Angeboten, aber das wird noch ein bisschen dauern. Der technische Aufwand ist im Digitalen sehr hoch. Und als kleines Verlagshaus haben wir da natürlich nur eingeschränkte Ressourcen.